Die dünne TrennliniePolitisches Theater ist wichtiger denn je

Die dünne Trennlinie / Politisches Theater ist wichtiger denn je
„Die Toten kommen“ – Aktion des Zentrums für politische Schönheit in Berlin (2015) Foto: AFP/Anadolu Agency/Mehmet Kaman

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Das Theater im Besonderen und die Kunst im Allgemeinen waren schon immer politisch. Die kritische Auseinandersetzung an den gesellschaftlichen Entwicklungen und Machtverhältnissen macht das dezidiert politische Theater aus. Seine Kritik erscheint heute wichtiger denn je. Einige Beispiele.

„Was für ein Theater brauchen wir in einer Zeit, in der Demokratien demontiert werden, rechte Populisten allerorten Zuwachs haben, in der soziale Ungerechtigkeit weiter wächst, zahlreiche Kriege sich ausbreiten und die Klimakatastrophe alle Aufmerksamkeit erfordert?“ Der diese Frage aufwirft, muss es wissen. Schließlich hat Florian Malzacher bedeutende Theaterfestivals gleitet und zahlreiche Bücher übers Theater herausgebracht. In seinem Buch „Gesellschaftsspiele“ untersucht Malzacher die heutigen Formen des politischen Theaters. Das würde bedeuten, dass das Theater mehr ist als ein Ort, um sich zu unterhalten, oder, wie es der Autor, Kurator und Dramaturg formuliert: „Zwischen Ethik und Ästhetik gibt es hier keine Trennung.“ Er umkreist letztlich die Frage nach dem, was politisches Theater ausmacht.

Eines seiner Beispiele ist Anta Helena Reckes Inszenierung von „Mittelreich“ nach dem gleichnamigen Roman von Josef Bierbichler. Die Regisseurin kopierte Anna-Sophie Mahlers Musiktheaterinszenierung desselben Stücks am selben Haus und besetzte dabei die Rollen ausschließlich mit nichtweißen Schauspielern und Schauspielerinnen. Die Hautfarbe der Darsteller soll irritieren. Recke, selbst Afrodeutsche, will das Selbstverständnis der weißen Mehrheitsgesellschaft, die sich für die Norm hält, erschüttern. Für Malzacher ist Reckes Inszenierung ein Beispiel par excellence, um in das Thema einzuführen. Für ihn ist ein Theater, das sich politisch begreift, ein Ort, an dem niemand ausgeschlossen oder benachteiligt werden soll – bis hin zu einem Ort, an dem sich utopisches Denken konkretisiert, auf der Bühne und hinter den Kulissen.

Ein weiteres Beispiel, dem sich Malzacher widmet, ist das Theater von Milo Rau. Der Schweizer Theatermacher führt die politische Wirkmacht an ihre Grenzen. Malzacher nennt jenen Moment einen „Augenblick der Wahrheit“, als Rau anlässlich seiner „General Assembly“ (2017) in der Berliner Schaubühne auf die Bühne gerufen wird, auf der sich 60 Delegierte aus aller Welt versammelt haben, um zu diskutieren, „wo wir als Weltgemeinschaft stehen und was zu tun ist – sozial, ökologisch, technologisch, politisch“. Ihr Ziel: eine „Charta für das 21. Jahrhundert“ zu erstellen.

Zwischen symbolisch und faktisch

Als ein deutsch-türkischer Erdogan-Anhänger auf offener Bühne den Völkermord an den Armeniern leugnet, wollen ihn die anderen rauswerfen. Milo Rau verweist ihn des Saals – und ruft ihn später wieder rein. Die Szene macht die dünne Linie zwischen Politik und Theater sichtbar, die „Gleichzeitigkeit von Symbolischem und Faktischem“, wie es Malzacher ausdrückt. Er schreibt: „Theater kann die Trennlinie zwischen Kunst und Politik überschreiben oder verwischen, spielerisch unterlaufen oder gar durchlöchern – niemals aber ignorieren.“

Im weiteren Sinne war Theater schon immer politisch, im engeren Sinne wird unter dem Begriff des politischen Theaters all das zusammengefasst, was gesellschaftliche oder politische Themen in den Mittelpunkt rückt. Das reicht von einer interventionistischen Form bis hin zu einer kritischen Auseinandersetzung und zum Kampf um Veränderung. In diesem Sinne ist das politische Theater noch recht jung, genauer gesagt: hundert Jahre alt, wenn man den Anfang mit der „Revue Roter Rummel“ für den Wahlkampf der Kommunistischen Partei im Jahr 1924 gleichsetzt, inszeniert von Erwin Piscator. Dieser hat sich nach dem Ersten Weltkrieg zuerst um die politische Ausrichtung des deutschsprachigen Theaters bemüht. Noch vor Bertolt Brecht entwickelte er in Berlin ein Theater, das konsequent die Interessen des Proletariats vertrat. Piscator schuf zwei dramaturgische Modelle: das Epische Drama (zusammen mit Brecht) und das sogenannte Dokumentarstück.

Vor allem ab den 60er-Jahren war das Bühnenschaffen zunehmend wieder politischer ausgerichtet: Der politische Aufbruch schlug sich in der Folge der Studentenbewegung auf den Bühnen nieder. Am bisher herrschenden „Krawattentheater“ wurde die Ausrichtung am Bildungsbürgertum, die passive Rolle der Zuschauer und die autoritäre Betriebsstruktur kritisiert, wie der Theaterwissenschaftler Peter Simhandl in seiner „Theatergeschichte in einem Band“ konstatiert. Aktion und Theater vermischten sich zunehmend, Bühnen wurden besetzt. Piscators Idee vom politischen Theater sei in der Besetzung des „Théâtre de l’Odéon“ vollendet worden, wird Judith Malina, die Leiterin des Living Theatre, in Erika Billeters Buch „The Living Theatre“ zitiert.

Das progressive Theater der 70er- und 80er-Jahre steht paradigmatisch für das, was man bis heute als politische Kunst bezeichnet. Die Bühne war durchaus ein relevanter Faktor gesellschaftlicher und politischer Debatten geworden. Im Westen ging es um Themen wie die Apartheid in Südafrika und um den Krieg in Vietnam, im Osten versteckte sich die Kritik am Regime in kodierten Botschaften. Allerdings konnte es „dem Dilemma nicht entkommen, dass seine Repräsentationen lediglich symbolische Wiederholungen genau jener Übel waren, die es eigentlich bekämpfen wollte“, schreibt Marzacher. Stück und Bühne reproduzierten lediglich das System, das sie kritisieren wollen.

Im Gegensatz dazu entwickelte sich in den 90er-Jahren ein Theater, das mit seinen mannigfaltigen Formen und sich überlappenden Disziplinen die bisher vorherrschenden Modelle revolutionieren wollte: unter anderem als ein postdramatisches Theater und Performancetheater. Der Kapitalismus führte zu einem verschärften Wettbewerb in der Wirtschaft und zu einer Flexibilisierung der Arbeitswelt, die selbstausbeuterischen Ich-Unternehmer landeten im Burn-out, der Mittelstandsbauch wurde „neoliberal entsaftet“, wie es Simhandl nennt.

„Rettet den Kapitalismus – schmeißt das Geld weg“

Auf die veränderte Lebenswelt reagierte das Theater mit Vielfalt – und radikal: Ein herausragendes Beispiel war Christoph Schlingensief (1960-2010), der seine Theaterkarriere 1993 mit dem Stück „100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen“ an der Berliner Volksbühne begann, mit Aktionen wie „Rettet den Kapitalismus – schmeißt das Geld weg“ bekannt wurde und für ein Projekt im Rahmen der Wiener Festwochen nach dem Vorbild der TV-Show „Big Brother“ Container aufstellen ließ, in dem sich Asylbewerber befanden, über die das Publikum symbolisch entscheiden konnte, wer den Container und das Land verlassen musste.

Ein anderes Beispiel für zeitgenössisches politisches Theater ist die deutsche Künstlergruppe Rimini Protokoll, deren Markenzeichen sogenannte Experten aus der Wirklichkeit sind, die sich in Theateraufführungen selbst spielen. Die Gruppe bearbeitet nicht nur klassische dramatische Stoffe wie Friedrich Schillers „Wallenstein“, in denen Menschen auftreten, deren Leben Parallelen zu Personen des Dramas aufweisen, sondern realisiert auch Projekte im öffentlichen Raum. Für „Raubkopie“ erklärten sich Personen bereit, in Bonn einen Tag lang mit verteilten Rollen analog zu einer Plenarsitzung des deutschen Bundestags das nachzusprechen, was vorher im Bundestag in Berlin gesagt wurde.

Christoph Schlingensief bei seiner „Wagnerrallye“ in Recklinghausen (2004)
Christoph Schlingensief bei seiner „Wagnerrallye“ in Recklinghausen (2004) Foto: dpa/Oliver Weiken

Ein Paradebeispiel der jüngsten Zeit ist die künstlerische Gruppe vom Zentrum für Politische Schönheit (ZPS), die durch ihre künstlerischen Interventionen auf „humanitäre Themen“ aufmerksam machen will. Mit dem Mahnmalprojekt „Die Säulen der Schande“ erinnerten die Künstler an die westliche Mitverantwortung für das Massaker von Srebrenica, für die Aktion „Die Toten kommen“ wurden an den EU-Außengrenzen verstorbene Flüchtlinge exhumiert und nach Berlin überführt, wo sie auf einem Friedhof beigesetzt wurden, bei „Flüchtlinge fressen – Not und Spiele“ wurde eine Arena mit Tigern errichtet, in einem anderen Fall ein Holocaust-Mahnmal vor dem Haus des rechtsextremen AfD-Politikers Björn Höcke errichtet.

Si däerfen alles. Si kréien alles. Si kënnen näischt.“ Damit beginnt „Ween stoppt RTL?“, das jüngste Stück von Richtung22. Das Künstlerkollektiv hat wieder zugeschlagen und sich den „einzigen Sender vorgenommen, den wir haben“, ohne den Luxemburg nicht denkbar sei und dessen Geschichte untrennbar mit der Geschichte des Landes verbunden sei. Das Stück thematisiert die „teuflischen Deals“ der politischen Machthaber mit der Privatgruppe CLT-UFA um viel Geld und um viele Verstrickungen.

Richtung22 ist provozierend, kritisch, gut recherchiert und sehr unterhaltend: In „Mis(s) Representation“ (2023) wies das Kollektiv auf „Pinkwashing“ hin, in „Grève générale contre le Luxembourg“ geht es um die französische Grenzregion und die Grenzgänger, in „Gérard Cravatte“ um den „Kampf eines luxemburgischen Industriellen gegen die Dekolonisierung im Kongo“. Bei „Expo2020Dubai“ stellt sich die Frage, ob die Moral für die Reise zur Weltausstellung zu Hause bleiben muss oder „ob wir von Anfang an überhaupt keine Moral hatten“. Wer die Aktionen, Filme, Stücke oder die satirische Internetseite „RTL Eent“ verfolgt, stellt schnell fest, dass auf Richtung22 im positiven Sinne das zutrifft, was der Spiegel einmal über das Zentrum für politische Schönheit schrieb: Es besitzt „die Lizenz, zu nerven“.

Das Kunstkollektiv „Richtung22“ bei seiner „Invasion“ von Esch2022
Das Kunstkollektiv „Richtung22“ bei seiner „Invasion“ von Esch2022 Foto: Richtung22