SüdafrikaMandelas Erbe: Vom Ende der Apartheid zur Identitätskrise

Südafrika / Mandelas Erbe: Vom Ende der Apartheid zur Identitätskrise
Nelson Mandela und seine damalige Frau Winnie im Februar 1990 nach seiner Freilassung Foto: AP

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Am 27. April 1994 endete in Südafrika mit den ersten demokratischen und freien Wahlen das Apartheid-Regime. Nach 30 Jahren Herrschaft des African National Congress (ANC) sind die Folgen der Rassentrennung noch zu spüren – unter der nicht nur die schwarze Bevölkerungsmehrheit, sondern auch die Gruppe der sogenannten Coloureds gelitten hat. Eine Bilanz aus der persönlichen Sicht des Autors.

Kaum ein geschichtliches Ereignis auf der Welt in den vergangenen drei Jahrzehnten hat mein Leben derart beeinflusst wie das Ende der Apartheid in Südafrika. Hätte das rassistische System fortbestanden, würde ich keine verwandtschaftlichen Beziehungen zu dem Land am Kap der Guten Hoffnung haben und wäre meine Tochter nicht zur Welt gekommen.

Wenn ich an die Zeit in Südafrika zurückdenke, ist einer der ersten Momente, an die ich mich erinnere, jener an einen Ausflug mit meiner Familie an die Küste. Gleich am ersten Tag in George, an der berühmten Garden Route, der Heimat meiner späteren Frau, fuhren drei ihrer Onkel mit mir ans nahe Meer.

Nur ein paar Minuten von Pacaltsdorp, einem früheren, vorwiegend von „Coloureds“ („Farbige“) bewohnten Vorort des Städtchens entfernt, stiegen wir aus dem Auto aus, stießen mit Castle-Bier an und blickten auf den an diesem Tag unruhigen Indischen Ozean. Leon, der älteste der Männer, erklomm einen der Felsen und blieb eine Weile wie angewurzelt stehen. Ich war beeindruckt von seiner traumwandlerischen Leichtigkeit.

Er sei völlig schwindelfrei. Seit seiner Jugend hat er als Dachdecker und Zimmermann gearbeitet, sagte mir der schlanke, großgewachsene Mann später, als wir zusammensaßen. Selbst in Maputo, der Hauptstadt des Nachbarlandes Mosambik, war er tätig. Er habe sich frei gefühlt, was vorher nicht immer der Fall gewesen sei, wie er mir erklärte. „Weißt du, früher durften wir nicht mal die gleichen Toiletten wie die ‚whiteys‘ benutzen, geschweige denn die gleichen Schulen, Sitzbänke und so weiter“, sagte er zu mir. Zum ersten Mal sprach ich während meines Aufenthalts mit jemand über die Zeit der Apartheid. Ich stellte fest, dass der Stachel, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits acht Jahre seit deren Ende vergangen waren, noch tief saß.

Vom Ende der Unterdrückung

Die erste freie Wahl in Südafrika, bei der die ehemalige Befreiungsbewegung ANC, die seit Jahrzehnten gegen das Apartheidregime gekämpft hatte, die absolute Mehrheit erzielte, markierte das Ende des staatlich verordneten Rassismus und eine historische Wende. Sie schlossen ein dunkles Kapitel in der Geschichte Südafrikas. Seit der Kolonialisierung durch Großbritannien und die Niederlande im 17. und 18. Jahrhundert war die nichtweiße Bevölkerung unterdrückt und ausgebeutet worden.

Die regierende National Party institutionalisierte das System der Apartheid (Afrikaans: Trennung) ab 1948, indem es die Einwohner des Landes streng nach vier vermeintlichen Rassen trennte: Weiße, Schwarze, Asiaten und Coloureds. Die Bürgerrechte der Nicht-Weißen wurden eingeschränkt oder teils entzogen. Sie hatten keinen gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Arbeitsmarkt, Politik und Rechtsprechung. Räumlich wurden die Schwarzen in Homelands und Townships von den Weißen getrennt.

Der ANC hatte zuerst mit den friedlichen Mitteln des zivilen Ungehorsams gegen die Unterdrückung angekämpft. Weil dieser erfolglos blieb, sich die Apartheidpolitik verschärfte und die Organisation sogar verboten wurde, entstand 1961 ein bewaffneter Flügel, der Sabotageakte und Bombenattentate verübte. Wie andere führende ANC-Mitglieder wurde der Rechtsanwalt Nelson Mandela 1962 festgenommen und 1964 zu lebenslanger Haft verurteilt.

Aus dem Untergrund an die Macht

Der ANC agierte aus dem Untergrund. Nachdem im Lauf der 80er Jahren der internationale Druck zugenommen hatte, brachte Staatspräsident Frederic W. de Klerk ab 1990 Reformen auf den Weg, lockerte die Apartheid-Gesetze, hob das Verbot des ANC auf und ließ Mandela nach 27 Jahren Haft frei. Die weißen Wähler sprachen sich in einem Referendum für die politische Gleichstellung aus. 1993 verabschiedete das Parlament eine Übergangsverfassung, die allen Südafrikanern das Wahlrecht garantierte und die am 27. April 1994 in Kraft trat. Dieser Tag ist heute Nationalfeiertag, der „Freedom Day“.

Meine Verwandten erinnern sich noch heute an die Kilometer langen Menschenschlangen vor den Wahllokalen. Für alle war es der erste Urnengang, einige hatten darauf bis ins hohe Alter warten müssen. Waren in der Zeit der Apartheid nur etwa drei Millionen Menschen wahlberechtigt gewesen, so war die Zahl 1994 auf 22,7 Millionen gestiegen. Zuvor war befürchtet worden, die Wahl könnte von Gewaltausbrüchen überschattet werden. Doch sie verlief relativ friedlich.

Nelson Mandela beim Urnengang 1994 in der Nähe von Durban
Nelson Mandela beim Urnengang 1994 in der Nähe von Durban Foto: UN/Chris Sattlberger

Mehr als 19 Millionen gültige Stimmzettel wurden abgegeben, was einer Wahlbeteiligung von etwa 87 Prozent entsprach. Der ANC erreichte 62,6 Prozent, die bisherige Regierungspartei NP kam auf 20,4 Prozent, die Inkatha Freedom Party (IFP) der Zulus auf 10,5 Prozent. Sie bildeten eine Regierung der nationalen Einheit. Und Nelson Mandela, der im Dezember 1993 gemeinsam mit De Klerk den Friedensnobelpreis erhielt, wurde Südafrikas erster schwarzer Präsident. Die endgültige Verfassung trat 1997 in Kraft, eine der modernsten der Welt.

Mandela verkörperte wie kein anderer Südafrikaner die Hoffnung auf eine Versöhnung und eine Einheit des Landes. Weltweites Interesse erregte die Einsetzung der Wahrheits- und Versöhnungskommission unter Vorsitz des anglikanischen Erzbischofs Desmond Tutu. Die Arbeit der Kommission wurde zum Vorbild für die Aufarbeitung von Verbrechen in Diktaturen. Nach dem Ende des Regimes wollten die früheren Machthaber eine Generalamnestie für alle Verbrechen unter ihrer Herrschaft. Der ANC hingegen wollte ein Tribunal. Die Kommission war folglich ein Kompromiss, weder ein Nürnberger Prozess noch eine Amnestie.

Obwohl die neu geschaffenen demokratischen Institutionen eine Basis für Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit schufen, sind die Auswirkungen des Apartheid-Regimes in vielerlei Hinsicht noch heute zu spüren. Das zeigt sich etwa an der ungleichen Verteilung der Vermögen und des privaten Landbesitzes. Ein Großteil des Ackerlandes ist noch in den Händen weißer Farmer. Außerdem ist Südafrika laut Gini-Index der Weltbank das Land mit der höchsten Einkommensungleichheit. Vier Fünftel der Einwohner leben unterhalb der Armutsgrenze. Jeder vierte Südafrikaner ist arbeitslos.

Die seit 30 Jahren vom ANC geführten Regierungen haben die Ungleichheit nicht beseitigt, sondern durch Misswirtschaft und Korruption neue Ungleichheit geschaffen – auch innerhalb der schwarzen Bevölkerung, wie Untersuchungen von Oxfam Südafrika bestätigen. Ein Tiefpunkt wurde während der Amtszeit des vormaligen Präsidenten Jacob Zuma erreicht, der im Februar 2018 nach heftigen Protesten und angesichts eines drohenden Amtsenthebungsverfahrens zurücktrat.

Zwischen den Stühlen

Kaum profitiert von der Demokratisierung haben große Teile der Coloured Community. Ihre Definition als Bevölkerungsgruppe stammt noch von 1950, als alle Nicht-Weißen, Nicht-Schwarzen und Nicht-Inder so bezeichnet wurden. Die laut Schätzungen 4,2 Millionen sogenannten Farbigen, die landesweit rund neun Prozent der Bevölkerung ausmachen, aber hauptsächlich in der westlichen (und nördlichen) Kapprovinz leben, wo sie die große Mehrheit bilden, sind zahlreichen Vorurteilen ausgesetzt. So sollen sie besonders stark von der Arbeitslosigkeit betroffen sein, in den Coloured Townships von Kapstadt, den Cape Flats, eine besonders hohe (Banden-)Kriminalität herrschen, der Missbrauch von Drogen (vornehmlich Tic, die südafrikanische Entsprechung von Crystal Meth) und Alkohol besonders ausgeprägt sein.

Trevor Manuel
Trevor Manuel Foto: Greg Beadle/World Economic Forum

Sicherlich steckt in vielen Klischees auch ein Stück Wahrheit, wovon ich mich selbst überzeugen konnte, als ich etwa einige Tage mit der südafrikanischen Polizei unterwegs war sowie bei Razzien und Hausdurchsuchungen dabei sein konnte. Allerdings wird damit einem großen Teil der „Coloured People“ unrecht getan. Die Normalität der farbigen Bevölkerung und nicht zuletzt „meiner“ Familie ist einfach die, dass sie, so gut es geht, ein geregeltes Leben haben – wenn auch unter erschwerten Bedingungen. In Zeiten der Apartheid nahmen sie eine Mittelposition ein: Sie wurden besser behandelt als Schwarze, aber deutlich schlechter als Weiße. Oder, wie es ein Verwandter ausdrücke: „Waren wir nicht weiß genug, sind wir jetzt nicht schwarz genug.“ Heute sind auch sie von einer größer gewordenen gesellschaftlichen Kluft betroffen: Während viele qualifizierte farbige Arbeitskräfte profitierten, sind die gering Qualifizierten verstärkt von Arbeitslosigkeit betroffen.

Mehrheitlich Christen und zu mehr als 75 Prozent Afrikaans sprechend, haben 1994 in der westlichen Kapprovinz nur 24,6 Prozent der Farbigen den ANC gewählt, die ehemalige Apartheid-Partei NP mit 68,7 Prozent, was viele Analysten verwunderte. Fünf Jahre später verlor die NP viele farbige Wähler an die liberale Demokratische Partei (DP), die sich später in Demokratische Allianz (DA) umbenannte, die größte Oppositionspartei. Eine bekannte Politikerin ursprünglich aus deren Reihen ist die aus der Gemeinschaft der Coloured stammende Patricia de Lille, von 2011 bis 2018 Bürgermeisterin von Kapstadt. Seit 2019 gehört sie der Regierung von Cyril Ramaphosa an. Ein weiterer prominenter Coloured-Politiker ist der aus den Cape Flats stammende Trevor Manuel (ANC). Er gehörte den Regierungen von Mandela, Thabo Mbeki bis Zuma (1994 bis 2014) an, unter anderem als Finanzminister. Er gilt als Architekt des zwischenzeitlichen wirtschaftlichen Aufschwungs.

Patricia De Lille
Patricia De Lille  Foto: Kopano Tlape

Was ist aus Mandelas Erbe geworden? Was aus dem Traum von einer versöhnten Nation? Nicht nur das Land, sondern auch der ANC steckt 30 Jahre nach dem Ende der Apartheid tief in der Krise. Bei den kommenden Wahlen Ende Mai droht ihm sogar der Machtverlust. Der Wahlkampf wird nicht zuletzt von der persönlichen Feindschaft zwischen dem 71-jährigen Amtsinhaber Ramaphosa und Zuma (82) geprägt. Während Zuma noch die Korruptionsaffäre anhängt, wegen der zurücktrat, wirft er Ramaphosa vor, die Justiz zu missbrauchen, um politische Gegner kaltzustellen. Letzterer kündigte an, am 16. Dezember, Südafrikas „Versöhnungstag“, für „uMkhonto we Sizwe“ (MK – Speer der Nation) anzutreten. Der einstige bewaffnete Flügel des ANC war kürzlich als Partei angemeldet worden und dürfte ein Sammelbecken von unzufriedenen Anhängern des ANC sein. Bei Letzterem läuten seither die Alarmglocken. Ramaphosa hat bessere Werte als seine Partei. Er führt die Umfragen deutlich vor Julius „Juju“ Malema von der linkspopulistischen Economic Freedom Fighters (EFF) an. Dieser ist für seine Ausfälle vor allem gegen die weiße Minderheit bekannt. Derweil wollen die anderen Oppositionsparteien den ANC gemeinsam von der Macht verdrängen. Sieben Parteien, darunter die DA und die Inkatha Freedom Party (IFP), haben sich verbündet.

Stets weist Ramaphosa darauf hin, dass seit 1994 Millionen Menschen in Südafrika der Armut entkommen seien, 80 Prozent der Haushalte hätten nun Häuser, 90 Prozent Elektrizität und Zugang zu Trinkwasser. Als der Präsident bei einem Wahlkampfauftritt im März einmal mehr davon sprach, musste er seine Rede zweimal unterbrechen, weil der Strom ausgefallen war. Am selben Abend fiel auch in dem größten Township Soweto das Wasser aus. Für die DA ein Verfassungsbruch. Wasser- und Strommangel sind neben Korruption und Kriminalität sowie der Wirtschaftskrise zu Wahlkampfthemen geworden.

Seither gibt es keine Stromabschaltungen mehr, meldete der kriselnde staatliche Stromkonzern Eskom. Außerdem werden mit einer großangelegten Aktion Straßenschäden behoben. Große Menschenschlangen wie vor 30 Jahren werden sich am 29. Mai nicht mehr bilden. Schon bei der letzten Wahl 2019 nahmen nur noch 49 Prozent der Wahlberechtigten teil, unter den Erstwählern nur zehn Prozent.

Jacob Zuma Anfang April in Johannesburg 
Jacob Zuma Anfang April in Johannesburg  Foto: AP/dpa

„Dass im Land der Apartheid eine liberale Demokratie etabliert werden konnte, gehört sicher zu den bedeutendsten Ereignissen des 20. Jahrhunderts“, schrieb einst der 2012 verstorbene Anti-Apartheidkämpfer Neville Alexander, der zusammen mit Nelson Mandela auf der Gefängnisinsel Robben Island inhaftiert war. Der studierte Germanist (in Tübingen), der sich nach dem Ende der Apartheid unter anderem mit Erziehungsfragen befasst hatte, kritisiert in seinem Buch „Südafrika. Der Weg von der Apartheid zur Demokratie“ unter anderem: „Eines ist sicher: Eine soziale Revolution im üblichen Sinne des Wortes hat es in Südafrika nicht gegeben.“

Alexander erinnert an die euphorischen Worte von Desmond Tutu: „Wir, die wir aus vielen Kulturen, Sprachen und Rassen stammen, sind zu einer Nation geworden. Wir sind das Regenbogenvolk Gottes.“ Thabo Mbeki, Präsident von 1999 bis 2008, griff 1997 auf diesen multikulturellen Diskurs zurück: „Sind wir, die wir uns täglich zur Nation erklären, tatsächlich eine Nation mit einem gemeinsamen nationalen Interesse, oder sind wir nur eine Ansammlung von Gemeinschaften, die zufällig den gleichen geopolitischen Raum bewohnen?“

Max du Preez, einer der bekanntesten Journalisten in Südafrika, schrieb drei Jahre später: „Während meines ganzen Erwachsenenlebens habe ich geglaubt, dass was wirklich zählt, meine Zugehörigkeit zu einer breiteren Gesellschaft wäre, und dass ich von Geburt Südafrikaner und Afrikaner bin – dass „weißer Afrikaaner“ nur meinen Stamm bezeichnete. (…) Nach fünf oder sechs Jahren im ‚Neuen Südafrika‘ finde ich mich in der Schublade des weißen Afrikaaners.“ Ein älterer Kollege von ihm habe geschrieben, „dass ich nur aus dem Grund plötzlich Afrikaner sein wollte, weil ich noch mehr vom Land der Schwarzen stehlen wollte.“

Vielfalt und Durchhaltewillen

Der frühere Anti-Apartheidaktivist Alexander weiß dazu: „Ökonomische, politische und soziokulturelle Veränderungen, nicht nur in Südafrika, haben alle traditionellen Gemeinschaften in eine Identitätskrise geschleudert.“ Nun hege er keinen Zweifel, „dass gegenwärtig ein guter Teil der multikulturellen (‚Regenbogen‘)-Metaphorik bloßes Ornament ist.“ Die südafrikanisch-deutsche Schriftstellerin Simoné Goldschmidt-Lechner, Angehörige der Coloured Community, schreibt in ihrem Buch „Messer, Zungen“: „Kein Ende in Sicht. Alles wiederholt sich. Ständig death and death and death. Wir kommen mit der Trauer nicht hinterher.“ Sowohl die Coloureds als auch das ganze Land Südafrika ist von einer großen Vielfalt geprägt. Und trotz oder wegen aller Probleme, die es gibt, auch von einem großen Durchhaltewillen, von Mut und Zuversicht. So wie Leon, der den Felsen erklomm und auf das Meer schaute.

Präsident Cyril Ramaphosa im Wahlkampf letzte Woche
Präsident Cyril Ramaphosa im Wahlkampf letzte Woche Foto: Rajesh Jantilal/AFP