KinoVom menschlichen Begehren: Die Filme von Luca Guadagnino (Teil 1)

Kino / Vom menschlichen Begehren: Die Filme von Luca Guadagnino (Teil 1)
Der italienische Filmemacher Luca Guadagnino bei der Premiere von „Challengers“ Foto: AFP/Michael Tran

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Der italienische Regisseur Luca Guadagnino schöpft sehr bewusst aus den verführerischen Qualitäten des Films. Sein neues Werk „Challengers“ wurde aufgrund des Autorenstreiks in Hollywood immer wieder verschoben. Guadagnino hat seit den Anfängen seiner Regiekarriere immer wieder menschliches Begehren untersucht – unterdrücktes und explodierendes Gefühlsrauschen gleichermaßen bebildert. Die erste Ausgabe eines zweiteiligen Rückblicks.

„Io sono l’amore“ (2009), der fünfte Spielfilm des italienischen Regisseurs, hat ihn definitiv im europäischen Kunstkino etabliert. Darin schildert Guadagnino den Ausbruch einer Frau aus einem Gefängnis. Wir befinden uns zur Winterzeit in Mailand, es soll ein großes Festessen bevorstehen. Der Patriarch Recchi feiert Geburtstag; er ist das Oberhaupt einer Familie, deren Reichtum sich aus dem Textilgeschäft speist. Die Protagonistin, Emma Recchi (Tilda Swinton), ist mit Tancredi, dem Sohn des Familienpatriarchen, verheiratet. Die ersten Einstellungen dieses Films lassen keinen Zweifel: Der Stil ist in seiner barocken Opulenz nahe an Luchino Viscontis „Il gattopardo“ (1963) oder noch „La caduta degli dei“ („Die Verdammten“, 1969) – es ist eine aufwändige Darstellung dieses Lebensstils, die Aufmerksamkeit der Kamera gilt den Interieurs, der Kleidung und den Accessoires.

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Spätestens mit seinem fünften Spielfilm „Io sono l’amore“ (2009) hat sich Luca Guadagnino definitiv im europäischen Kunstkino etabliert

Ein Ausstattungs- oder Kostümfilm, wie man Viscontis Epen gerne beschreibt, ist „Io sono l’amore“ aber nicht. Vielmehr lässt Guadagnino Figuren, Kostüme, Ausstattung gleichberechtigt nebeneinander stehen, um ein Ganzes zu formen. Er zeigt damit auch, wie sehr die Bourgeoisie mit der Welt ihrer Objekte verbunden ist. Es ist die privilegierte italienische Gesellschaftsschicht, die keine materiellen Sorgen zu kennen scheint – eine wichtige Leitidee bei Guadagnino, die er von Michelangelo Antonioni übernommen hat. Bei aller materieller Dekadenz fehlt es Emma Recchi an Zuneigung: So verliebt sie sich im Laufe der Erzählung leidenschaftlich in den Freund ihres Sohnes, einen jungen Mann, der halb so alt ist wie sie, und der die Leidenschaft erwidert.

Erratische Verfolgungsszenen erinnern freilich an die Filme Alfred Hitchcocks, der Ausdruck eines tiefen Verlangens wird da anschaulich. Emmas Begehren, die ausbrechende Leidenschaft, ist nicht verbal gelöst – über die Dialoge werden wir der Gefühlswelt dieser Frau nicht habhaft. Guadagnino nutzt dafür die sinnlichen Qualitäten der filmischen Form: Er inszeniert seine Räume zuvorderst über Farbe und Licht. Es geht vom kalten und trostlosen Winter in die sonnige Hitze Mailands. In dem Wechsel der Jahreszeit ist denn auch das Aufflammen des Affekts mit angelegt: Da gibt es Bilder von gleißendem Sonnenlicht, von Kameraschwenks über üppige Landschaften, von Grashalmen, die im Wind wehen, von Oberflächen der Baumrinde in Detailaufnahme, von allerlei Früchten – Guadagnino montiert sie alternierend zu den Einstellungen von menschlichen Körpern beim Liebesakt.

Wieder erinnern die Bilder und der Montagestil an einen wichtigen Modernisten des italienischen Kinos der Nachkriegszeit: Bernardo Bertoluccis „Stealing Beauty“ (1996) drängt sich als Bezugsquelle förmlich auf. Mit „Io sono l’amore“ hat sich Luca Guadagnino als Ästhet des Kinos manifestiert: Er ist jemand, der an der inhaltlichen Ausrichtung seiner Filmerzählungen weniger interessiert ist als an der verführerischen und synästhetischen Qualität des filmischen Sinneseindrucks: Er will die Hitze Mailands über die formsprachlichen Gestaltungsmittel des Films – einer sorgfältigen Gestaltung der Tonspur, das Zirpen der Grillen und das Zwitschern der Vögel besonders akzentuierend, und der präzisen Montage diverser Großaufnahmen des Naturlebens – ebenso einfangen wie die Kälte einer entrückten Oberschicht, ohne dabei zu explizit ins Erotische oder ins übertrieben Moralische abzugleiten.

Der Ausbruch der Begierde

Diese entschlossene Schilderung eines aufflammenden Begehrens war auch das bindende Thema seines nächsten Werkes: „A Bigger Splash“ (2015) scheint zunächst weniger dem italienischen als dem französischen Film traditionell verpflichtet zu sein. Sein direkter Bezugsfilm ist „La piscine“ (1969) von Jacques Deray mit Alain Delon und Romy Schneider in den Hauptrollen. 2003 verfilmte bereits François Ozon diesen Klassiker des französischen Kinos neu. Marianne (Tilda Swinton) und Jean-Paul (Matthias Schoenaerts) verbringen den Sommer in einem luxuriösen Anwesen im Süden Italiens. Die große Popkünstlerin braucht nach der Überlastung ihrer Stimmbänder eine Auszeit, bevor sie wieder auf Tournee geht. Ausgerechnet Harry (Ralph Fiennes), der ehemalige Liebhaber von Marianne, ist mit seiner gerade volljährig gewordenen Tochter Penelope (Dakota Johnson) zu Besuch. Die geplante Auszeit wird zur emotionalen Extremprobe: Alte Wunden brechen auf, sexuelle Begierden entflammen und laden die Beziehungen zwischen den vier Personen ungemein spannungsvoll auf. Guadagnino entwickelt dieses Spannungsverhältnis entlang eingängiger Popsongs, viel Alkohol und drückender Hitze. Am Ende liegt eine Leiche im Pool. Auch in diesem Film fokussiert der Italiener die emotionalen Gefühlslagen seiner Figuren. Dass die von Figur der Marianne überwiegend stumm ist, ist nicht nur ein Selbstverweis auf den Vorgängerfilm, es eröffnet auch einen weiteren Raum für die Uneindeutigkeiten. Vor allem beobachtet der Film subtil diverse langsam wachsende Lieb- und Feindschaften. An dieses Figurenensemble werden wir angebunden, wir erleben da, wie neues Verlangen entsteht, sich die Konflikte zuspitzen – dass eine unabwendbare Katastrophe heraufbeschworen wird, ist so absehbar, wie Guadagninos Gespür für Atmosphären offensichtlich ist.

Nicht so sehr sind es die Thriller-Elemente des Plots, die diesem Film erzählerischen Aufschwung geben, es sind vielmehr die Begierden der einzelnen Figuren. Sie geben den Rhythmus des Films vor: Lange Passagen aus ausschweifenden Wanderungen oder noch das Zusammentreffen mit einer Gruppe von Flüchtlingen im Mittelmeerraum entsprechen dem Kontingenzprinzip, nach dem Guadagnino operiert. Obwohl damit ein direkter Bezug zur tagespolitischen Aktualität geschaffen war, gewichtet er diese Momente nicht in klassisch-dramaturgischem Sinne. Es geht ihm vielmehr um das Ausbreiten dieses Verknüpfungsgeflechts – diese scheinbare Ziellosigkeit ist eng an das Begehren der Figuren gebunden; wir sind diesen ganzheitlich ausgeliefert. Dabei unterdrückt Guadagnino die transparente Lesart des Films, er belässt es bei den Ambivalenzen, den Uneindeutigkeiten, den aufwühlenden Fragen – nicht einmal das behauptete Verwandtschaftsverhältnis zwischen Vater und Tochter oder noch der Todesfall werden am Ende geklärt.

Das Genrekino allein ist dem Filmemacher Luca Guadagnino zu simpel, die Atmosphäre muss das Publikum in die Diegese hineinziehen, nicht die Genrecodes. Dafür sind seine Filme allein schon narrativ viel zu ausschweifend. Die narrative Zielgerichtetheit verliert sich bei Guadagnino immer wieder zugunsten eines viel kontingenteren Zeiterlebens. Wenn das Ausufernde, das Mäandernde der Handlung überhandnimmt, dann ist Guadagninos Kino bei sich. Das Brüchige, das Fluide hat Methode in den Filmen des 52-jährigen italienischen Regisseurs, der von sich selbst sagt, er sei ein Voyeur, für den das Kino das optimale Vehikel darstellt. Sein Film „Call Me By Your Name“ (2017), basierend auf der literarischen Vorlage von André Aciman, wurde nicht nur als Guadagninos erster großer Höhepunkt rezipiert, er war auch der Durchbruch für den damals 21-jährigen Thimothée Chalamet, der umgehend zum Weltstar avancierte. Die beiden darauffolgenden Werke „Suspiria“ (2018) – ein „Remix“ des Filmklassikers von Dario Argento, wie ihn Guadagnino selbst bezeichnete – und „Bones and All“ (2022) waren beides Horrorfilme als Spiegel für die (Un-)Möglichkeiten menschlichen Begehrens.

Luca Guadagnino

Dieser Text ist der erste von zwei Artikeln über den Regisseur Luca Guadagnino. Den zweiten Teil der Serie von Marc Trappendreher finden Sie hier.