ForumOsteuropa braucht ein neues Einwanderungsnarrativ

Forum / Osteuropa braucht ein neues Einwanderungsnarrativ
In Bereichen wie Maschinenbau, Automobilindustrie und IT werden Fachkräfte gesucht Foto: dpa/Stefan Puchner

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Die mittel- und osteuropäischen Regierungen sind seit langem stolz auf ihre harte Migrationspolitik. Viele führende Politiker der Region haben in den letzten Jahrzehnten ihre Bemühungen darauf konzentriert, den Zustrom von Migranten und Asylsuchenden zu begrenzen. Sie argumentieren, der Zufluss von Menschen aus Drittstaaten würde die soziale Stabilität untergraben, den kulturellen Zusammenhalt gefährden und sogar ein Sicherheitsrisiko darstellen.

So widersetzten sich etwa 2015, auf dem Höhepunkt der EU-Migrationskrise, die vier Visegrád-Staaten (die Tschechische Republik, Ungarn, Polen und die Slowakei) vehement dem Quotensystem des Blocks, das darauf zielte, die Last durch Zuweisung einer festgelegten Zahl Asylsuchender an jedes Land auf Basis der Bevölkerungszahl, des BIP und anderer Faktoren zu teilen. Zu den lautstärksten Kritikern des Plans gehörten Ungarn und die Slowakei. Sie argumentierten, vorgeschriebene Quoten seien ein Anschlag auf die nationale Souveränität.

Zugegeben: Die mittel- und osteuropäischen Länder – insbesondere Polen und die Tschechische Republik – haben Millionen von Ukrainern aufgenommen, die 2022 durch die russische Invasion aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Ihre harte Linie bei der Migration jedoch haben die Staats- und Regierungschefs der Visegrád-Staaten trotz dieser Großzügigkeit beibehalten. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán – ein selbsterklärter Verfechter christlicher europäischer Werte – propagiert die Vision einer homogenen ungarischen Gesellschaft. Ungarn hat 2022 nur zehn Personen als Flüchtlinge anerkannt und sich so einen Tadel des höchsten EU-Gerichts zugezogen. In der Slowakei siegte bei den Wahlen im letzten Jahr die linkspopulistische Smer-Partei von Ministerpräsident Robert Fico, indem sie die Ressentiments gegenüber ukrainischen Flüchtlingen ausnutzte. Und erst kürzlich hat die Region ihre Bemühungen verschärft, die illegale Einwanderung über den Balkan durch Einführung strengerer Kontrollen und den Einsatz von Sicherheitskräften bei Grenzpatrouillen zu stoppen.

Ein negatives Narrativ über Migranten hat Politikern wie Orbán und Fico geholfen, ihren Zuspruch seitens der Wähler durch Spiel mit deren Ängsten vor Andersartigkeit, ihren wirtschaftlichen Sorgen und ihrem Wunsch nach Stabilität in einer aus den Fugen geratenen Welt zu konsolidieren. Doch ändert dies nichts an dem akuten Fachkräftemangel der Region. Das ist ein dringendes Problem, dass die Politiker jedoch bisher kaum angesprochen haben.

Arbeitskräfte aus Drittländern anlocken

Tatsächlich lockern die mittel- und osteuropäischen Länder zunehmend ihre Einwanderungsregeln und -verfahren, um Ausländern die Einreise und Arbeitsaufnahme zu ermöglichen. In dem Bemühen, Bewerber aus Drittländern anzulocken, hat Ungarn im Januar im Schnelldurchgang ein neues Einwanderungsgesetz verabschiedet, das neue Kurzzeitvisa für Gast- und Facharbeiter einführt. Mit diesem zwischen mehreren Ministerien abgestimmten Bemühen einher gingen neue Outsourcing-Verträge, um die Effizienz der Visabearbeitung in Ländern wie Oman, Katar und Usbekistan zu steigern.

Ungarn hat kaum eine andere Wahl. Ein durch die rapide Bevölkerungsalterung bedingter schwerwiegender Mangel an Arbeitskräften in den kommenden Jahren würde das Ziel der Regierung erschweren, das Land zu einem Fertigungszentrum für Elektrofahrzeuge und einer Basis für die Rüstungsindustrie zu machen. Das chinesische Unternehmen CATL hat 2022 den Bau einer Batteriefabrik für Elektrofahrzeuge im Wert von 7,3 Milliarden Euro in Ungarn angekündigt – die bisher größte derartige Investition in Europa. Das chinesische Unternehmen BYD hat in 2023 Pläne zur Eröffnung einer Fabrik für Elektrofahrzeuge im Lande – seine erste in Europa – bekannt gegeben. Das deutsche Rüstungsunternehmen Rheinmetall hat vor kurzem ein neues Werk in der ungarischen Stadt Zalaegerszeg eröffnet, und taktische bewaffnete Fahrzeuge werden in der Stadt Györ produziert. All diese Projekte erfordern ausreichend Humankapital.

80.000


Insgesamt 80.000 Stellen sind in der Slowakei langfristig unbesetzt

Auch die Tschechische Republik ist bemüht, Bürger aus Drittländern ins Land zu locken. So hat sie im September 2022 das Anwerbeverfahren für „dringend benötigte“ Arbeitnehmer vereinfacht und die Aufsicht über die Arbeitsbedingungen ausländischer Arbeitskräfte verbessert. Im letzten Sommer hat das Land seine Gesetze an die Blue-Card-Richtlinie der EU angeglichen, die die Einreise- und Aufenthaltsbedingungen für hochqualifizierte Arbeitskräfte aus Drittstaaten regelt. Derweil hat es Polen Inhabern einer befristeten Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, die in als für die polnische Wirtschaft wünschenswert betrachteten Berufen tätig sind, 2019 erleichtert, eine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis zu erwerben.

In ähnlicher Weise hat sich die Zahl ausländischer Arbeitnehmer in der Slowakei zwischen 2013 und 2022 versiebenfacht. Einige Hersteller, wie das britische Automobilunternehmen Jaguar Land Rover, sind stark auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Und ein wachsender Anteil dieser Arbeitskräfte kommt von weiter weg – etwa aus Indien oder Kasachstan statt aus Serbien oder der Ukraine. Trotzdem sind im Lande noch immer mehr als 80.000 Stellen langfristig unbesetzt, insbesondere im Maschinenbau, in der Automobilindustrie, im Transportsektor, im Gesundheitswesen und in der IT-Branche.

Dieser Arbeitskräftemangel dürfte sich weiter verschärfen: Die Nachfrage nach Facharbeitern in Zukunftsbranchen steigt, während die Geburtenraten sinken und junge Leute der Region den Rücken kehren, um anderswo bessere berufliche Chancen wahrzunehmen. Zur Bewältigung dieses Fachkräftemangels müssen die mittel- und osteuropäischen Länder ihre Einwanderungspolitik weiter reformieren. Tun sie es nicht, könnte das zu weit verbreiteten wirtschaftlichen Problemen führen, weil diesen Ländern dann neue Investitionen entgehen könnten, die für Wirtschaftswachstum sorgen und die Steuereinnahmen steigern könnten.

Blue Card und Harmonisierung der Kriterien

Die Frage ist nicht, ob Einwanderung gut oder schlecht ist, sondern wie man es anstellt, dass sowohl die Zielländer als auch die Arbeitnehmer aus Drittstaaten davon profitieren. Hauptziel der Politiker sollte es sein, den Nutzen aus der Einwanderung im größtmöglichen Umfang zu steigern. Das erfordert Konsultationen mit dem privaten Sektor, um kontinuierlich die benötigten Fertigkeiten zu ermitteln. Instrumente wie die Blue Card haben in gewissem Umfang zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels beigetragen, würden jedoch von verschlankten Verfahren und einer Harmonisierung der Kriterien in den EU-Mitgliedstaaten profitieren. Zudem könnte die Einführung neuer, den derzeitigen und künftigen Bedarf am Arbeitsmarkt ansprechender globaler Qualifizierungsprogramme – insbesondere mit Nicht-EU-Ländern – die Wirtschaftsmigration erleichtern und zugleich den Braindrain in den Herkunftsländern verringern.

Die performative Feindseligkeit der mittel- und osteuropäischen Regierungen gegenüber Migranten kann nicht über ihren dringenden Bedarf an ausländischen Arbeitskräften hinwegtäuschen. Die Politiker müssen nun – öffentlich und wiederholt – positive Argumente für die Einwanderung vorbringen, um ihre Wähler zu überzeugen, dass von dem wirtschaftlichen Nutzen, den die Neuankömmlinge hervorbringen, alle profitieren.

Von Jan Doolan aus dem Englischen übersetzt.

Soňa Muzikárová ist Volkswirtschaftlerin mit Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa und Research Fellow am Europäischen Hochschulinstitut. Sie war Ökonomin bei der Europäischen Zentralbank, Diplomatin bei der OECD und leitende Beraterin des Vizeaußenministers der Slowakischen Republik.

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