ForumDas Schicksal von Rached Ghannouchi verdient mehr Aufmerksamkeit

Forum / Das Schicksal von Rached Ghannouchi verdient mehr Aufmerksamkeit
Rached Ghannouchi wurde im Mai 2023 zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt. Vor kurzem verurteilte ein tunesisches Gericht ihn zu drei weiteren Jahren Gefängnis. Foto: Wikimedia Commons

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Als ehemaliger Politiker und ehemaliger Präsident, der sich seit langem gegen politische Verfolgung ausspricht, fühle ich mich verpflichtet, auf die Notlage des inhaftierten tunesischen Politikers Rached Ghannouchi aufmerksam zu machen. Seine Haft sollte eigentlich in diesem Sommer enden, aber nun sieht es so aus, als würde sie verlängert. Diese Aussicht ist so schmerzlich für mich, wie sie es für jeden überzeugten Demokraten sein sollte. Ghannouchi hat seinem Land und seinem Volk mit Anstand gedient. Er hat es nicht verdient, hinter Gittern vergessen zu werden.

Im März 2012, nach der Jasmin-Revolution in Tunesien, war ich der erste ausländische Präsident, der vor der Verfassungsgebenden Versammlung des Landes sprach. Ich erklärte gegenüber der Versammlung, dass ich von dem sich abzeichnenden nationalen Konsens zwischen Säkularisten und Konservativen ermutigt und beeindruckt sei – eine bedeutende Leistung und ein Zeichen demokratischer Reife. In meiner Rede sagte ich: „Die ganze Welt, insbesondere die arabische und islamische Welt, die für Freiheit, Gerechtigkeit, Rechte und Würde kämpft, ist mit ihren Gedanken und mit ihrem Herzen bei Tunesien gewesen.“

Nach 25 Jahren Alleinherrschaft sandte Tunesien eine klare Botschaft an die Welt: Demokratie ist keine Regierungsform, die dem Westen vorbehalten ist. Hinter dieser Botschaft stand ein weiser Mann, der mit seinem Engagement für demokratische Grundsätze und Toleranz ein Beispiel für alle setzte: Ghannouchi.

Ghannouchi, Gründer und Chef der islamisch-demokratischen Bewegung Ennahda in Tunesien, ist ein weltgewandter Intellektueller, der an die Möglichkeit der Koexistenz auch zwischen sehr unterschiedlichen Menschen und Gruppen glaubt. Er ist zudem ein mutiger Religionsgelehrter, der sich um eine zeitgemäße Auslegung des islamischen Verständnisses bemüht hat, das ein klares Bekenntnis zu den Werten der Freiheit und der Demokratie enthält (auch wenn er in diesem Bereich nie die Anerkennung erhalten hat, die er verdient hätte), und er setzt sich seit langem couragiert für die Rechte der Frauen in Gesellschaft, Wirtschaft und religiösen Einrichtungen ein.

Vorbildlicher politischer Führer

Diese Grundsätze machten Ghannouchi zu einem vorbildlichen politischen Führer in Tunesien und in der ganzen Welt. Doch sie haben ihm das Leben nicht leicht gemacht. Der 1941 geborene Ghannouchi war in den 1980er-Jahren politischer Gefangener und verbrachte anschließend 22 Jahre im Exil in Europa. Als der tunesische Präsident Zine el-Abidine Ben Ali 2011 gestürzt wurde, kehrte er in sein Heimatland zurück, wo er umgehend als beliebtester Politiker Tunesiens willkommen geheißen wurde. Zu diesem Zeitpunkt hätte er den einfachen Weg einschlagen können, wie es viele seiner Zeitgenossen taten, und mit Populismus Wahlkampf betreiben können, um Ennahda ihren Platz als dominierende Partei zu sichern und seine bevorzugte politische Agenda kompromisslos zu verfolgen.

Stattdessen ging er ein Risiko ein und entschied sich für einen Weg, der in der Region selten gewählt wird. Er legte Wert darauf, Kompromisse mit anderen einzugehen und breite Koalitionen zu bilden, indem er mit Säkularisten, Sozialdemokraten und anderen Gruppen regierte. Anstatt zu kandidieren (wie es sich so viele wünschten), ebnete er den Weg für jüngere Generationen und mäßigte zugleich die radikaleren Stimmen innerhalb seiner eigenen Partei. Und als die Zeit gekommen war, versuchte er nicht, die Macht unter einer Einparteienherrschaft zu monopolisieren, sondern unterstützte die Kandidatur des prominenten säkularen Menschenrechtsaktivisten Moncef Marzouki für das Präsidentenamt.

Wann immer eine neue politische oder gesellschaftliche Krise ausbrach, setzte er sich konsequent für einen Staat ein, in dem „die Exekutive, Legislative und Judikative getrennt sind, die Rechtsstaatlichkeit an erster Stelle steht und die Gewissens-, die Meinungs- und die Vereinigungsfreiheit gewährleistet sind“.

Er wusste, dass eine Wiederholung der Fehler der Vergangenheit der Einparteienherrschaft den Tunesiern nicht zu dauerhaftem Frieden und Stabilität verhelfen würde.

Dank des visionären, inklusiven Ansatzes, den er förderte, wurde das tunesische Quartett für nationalen Dialog (eine Gruppe zivilgesellschaftlicher Organisationen, die dazu beitrug, eine neue demokratische Verfassung sicherzustellen) 2015 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Tunesien hatte eine Verfassung verabschiedet, die als Modell für die übrige Region dienen könnte.

Ein außergewöhnlicher Moment

Die wichtigsten Säulen der tunesischen Gesellschaft – Säkularisten, Liberale, Islamisten und Linke – hatten einen schwierigen, aber breiten Kompromiss im Interesse des Pluralismus und der Freiheit erzielt. Dies war ein außergewöhnlicher Moment für den Nahen Osten, Nordafrika und für die islamische Welt allgemein.

Doch die Entwicklungen in Tunesien endeten nicht so gut, wie sie begonnen hatten. Vor drei Jahren wurde das demokratisch gewählte tunesische Parlament, in dem Ghannouchi als Sprecher fungierte, suspendiert und anschließend aufgelöst. Die Regierung wurde entlassen. Im April vergangenen Jahres wurde Ghannouchi verhaftet und im Mai zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt. Vor kurzem verurteilte ein tunesisches Gericht Ghannouchi zu drei weiteren Jahren im Gefängnis, was offenbar ein Versuch ist, seine Haft willkürlich zu verlängern.

Die verlängerte Inhaftierung des 82-jährigen Ghannouchi macht die inspirierende Botschaft zunichte, die Tunesien vor zwölf Jahren in die Region und in die Welt sandte. Die Tunesier müssen den demokratischen Übergang konsolidieren und nicht umkehren, zu dem Ghannouchi so viel beigetragen hat. Tunesien braucht mehr Mitbestimmung und nicht mehr Engstirnigkeit.

Die strafrechtliche Verfolgung einer derart gemäßigten politischen Persönlichkeit in einer muslimischen Gesellschaft verheißt nichts Gutes für andere politische Akteure, die ähnliche Ideale der Koexistenz und Toleranz vertreten.

Daher gebe ich meiner persönlichen Hoffnung Ausdruck, dass die Inhaftierung Ghannouchis bald beendet wird.

Dies wäre eine solide Geste für Tunesien, ein Land, das traditionell den Geist der Freiheit, der Toleranz und des wertvollen Erbes von Ibn Khaldun verkörpert.


Abdullah Gül
Abdullah Gül

Aus dem Englischen von Sandra Pontow.

Abdullah Gül ist ehemaliger Präsident der Republik Türkei.

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