ÜberblickDie große Ungleichheit in Luxemburgs Schulen: Was die Bildungschancen hierzulande beeinflusst

Überblick / Die große Ungleichheit in Luxemburgs Schulen: Was die Bildungschancen hierzulande beeinflusst
Interkulturelles Lernen und soziale Empathie sollten zum Standard in Luxemburgs Schulen gehören. Das ist jedoch nicht der Fall. Foto: Freepik

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Trotz der weiteren Ausdifferenzierung der luxemburgischen Schullandschaft durch die Einführung von öffentlichen internationalen Schulen ist das hiesige Bildungssystem nach wie vor zu wenig auf Schüler mit Migrationshintergrund und aus sozial benachteiligten Familien ausgerichtet. Experten erklären, wie dieser Rückstand aufzuholen ist.

Es war ein offenes Geheimnis, dass rassistische Tendenzen im Luxemburger Schulsystem nach wie vor bestehen. Doch lange Zeit wurde das Problem verharmlost. Schließlich dauerte es bis zu einer öffentlichen Konferenz im November 2019, dass öffentlich darüber diskutiert wurde. An der Podiumsdiskussion im hauptstädtischen Cercle Cité, organisiert von ASTI, CLAE und der Luxemburger Menschenrechtskommission CCDH, nahm zwar die damalige Familien- und Integrationsministerin Corinne Cahen teil, nicht aber Bildungsminister Claude Meisch, ihr liberaler Parteikollege – obwohl sein Ressort von der Problematik betroffen ist.

Die Veranstaltung offenbarte auf der Basis der ein Jahr zuvor veröffentlichten Ergebnisse der Studie „Being Black in the EU“ der Europäischen Agentur für Menschenrechte, wie weit verbreitet der strukturelle Rassismus hierzulande war und noch immer ist: Jede zweite Person of Color (PoC) gab an, in den fünf zurückliegenden Jahren rassistisch beleidigt worden zu sein. Allgemein sagten 70 Prozent der Befragten, schon mal wegen ihrer Hautfarbe und Herkunft benachteiligt worden zu sein. Dass diese Diskriminierung unter anderem in den Schulen stattfindet, konnten einige Konferenzteilnehmer bestätigen. „Seit wann lassen wir Schwarze ins klassische Lyzeum?“, habe ein Lehrer zu ihr gesagt, berichtete eine Frau mit kapverdischen Wurzeln.  

Struktureller Rassismus

Dass die Benachteiligung von Schülern aufgrund ihrer Herkunft viel ausgeprägter ist als bis zu diesem Zeitpunkt erwartet, bestätigte auch eine Studie des „Centre d’étude et de formation interculturelles et sociales“ (Cefis) aus dem Jahr 2017 über die kapverdischen Einwanderer in Luxemburg. Unter anderem ihr geringer Anteil an den Schülern in den klassischen Lyzeen hat zu denken gegeben. Hinzu kommt die Diskriminierung in anderen Bereichen, wie etwa auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt.

Die Situation von Jugendlichen kapverdischer Herkunft hatte Mirlene Fonseca Monteiro zum Thema ihrer Masterarbeit in „Ingénierie et action sociales“ gemacht. Sie würden schon von klein auf, spätestens seit der Einschulung das Gefühl des Andersseins vermittelt bekommen, sagte die Sozialarbeiterin anlässlich der „Being Black in Luxembourg“-Konferenz im Interview. Auf der einen Seite das „Wir“ der Luxemburger, auf der anderen das „Ihr“ der Ausländer – auch wenn sie in Luxemburg geboren wurden. Dabei handelt es sich nicht zwingend um Gewalterfahrungen, sondern um jene permanenten, kleinen Erlebnisse, die wehtun und Narben hinterlassen. „Mückenstiche mit System“ nennt sie die deutsche Journalistin Alice Hasters in ihrem 2020 erschienenen gleichnamigen Essay: „Rassismus ist ein System, das mit der Absicht entstanden ist, eine bestimmte Weltordnung herzustellen.“

Da wurde der Name eines anderen Landes als Antwort erwartet und auch gerne so lange gebohrt, bis eine Person sagte, dass sie nicht von ‚hier‘ war

Mark Terkessidis, Migrationsforscher

Mark Terkessidis 
Mark Terkessidis  Foto: Kai Loges & Andreas Langen

Der Alltagsrassismus besteht aus Stereotypen, wie sie etwa der deutsche Migrationsforscher Mark Terkessidis in seinem Buch „Die Banalität des Rassismus“ (2002) beschreibt. „Das Buch hat sich damals vor allem gegen die allgemeine Vorstellung gerichtet, Rassismus, das sei immer nur Gewalt und Rechtsextremismus“, sagte er dem Autor dieses Textes in einem Interview. Terkessidis hatte für seine Recherchen zahlreiche Betroffene befragt. Viel häufiger habe es sich um Erfahrungen gehandelt, sich im Alltag durch das Verhalten von anderen ausgeschlossen zu fühlen. Das habe mit der ständigen Frage „Woher kommst du?“ angefangen. „Da wurde der Name eines anderen Landes als Antwort erwartet und auch gerne so lange gebohrt, bis eine Person sagte, dass sie nicht von ‚hier‘ war“, berichtete Terkessidis. „Viele Befragte hatten damals auch die Schule angesprochen. Das kannte ich aus eigener Erfahrung, denn ich wurde dort als Kind und Jugendlicher ständig als Fachmann für Griechenland angesprochen, sogar als Experte für die griechische Antike. Kinder mit Migrationshintergrund sollen demnach Wissen über ihre Herkunft quasi im Blut haben und werden in anderen Bereichen grandios unterschätzt. Das ist leider heute noch so.“

In seinem Buch „Interkultur“ (2009) stellt Terkessidis den Begriff der Integration in Frage, der häufig als Assimilation verstanden wird. Er räumt jedoch auch mit den gängigen Klischees des Multikulturalismus als einem bloßen Nebeneinander verschiedener Kulturen auf. Demgegenüber stellt er den Begriff von „Interkultur“. Diese schaffe die Bedingungen dafür, dass alle in ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und sich entfalten können. Die Vielheit, so Terkessidis, sei die „normale Ausgangslage, die es zu gestalten gilt“. Terkessidis beschreibt die Formen des Rassismus, die Kinder mit Migrationshintergrund aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens und ihrer Religionszugehörigkeit machen: Damit würden sie zu Fremden und nicht als Individuum gesehen. Dagegen erscheint dem Autor die Anpassung an eine „Leitkultur“ als obsolet. Ihr stellt er die Interkultur als Modell gegenüber, das gerechte Chancen für alle bieten soll. Der Staat und seine Institutionen müssten sich nicht nur darauf einstellen und das Zusammenleben organisieren. Als Aufgabe des Staates nennt er die „Schaffung gleicher Startvoraussetzungen für die miteinander konkurrierenden Individuen – ganz gleich welchen Geschlechts, welcher Schichtzugehörigkeit, Herkunft, Altersgruppe oder sexuellen Orientierung“.

Interkulturelle Alphabetisierung

Eine entscheidende Rolle kommt der Schule zu. Die „Interkultur“ verlangt eine interkulturelle Alphabetisierung. Schließlich gehe es im Unterricht darum, sowohl die soziale als auch interkulturelle Kompetenz der Schüler zu fördern, sagt der luxemburgische Psychologe Fari Khabirpour, der ehemalige Direktor des „Centre psychologique et d’orientation scolaire“ (CPOS), dem Vorläufer des heutigen „Centre psycho-social et d’accompagnement scolaires“ (Cepas). „Interkulturell zu kommunizieren erlernt man wie eine Sprache“, sagt Khabirpour. „Es geht darum, welche Kompetenzen ich haben muss, um den anderen sowie seine Art zu denken zu verstehen. Dazu gehört die mündliche Sprache ebenso wie die Körpersprache. Dazu gehören unter anderem die Blicke. Ich muss mich fragen: Was will er mir damit mitteilen?“

Fari Khabirpour
Fari Khabirpour Foto: Editpress-Archiv/Didier Sylvestre

Dass dabei die Ausbildung des pädagogischen Personals zu wünschen übrig lässt, kritisieren sowohl Terkessidis als auch Khabirpour. Zwar gibt es einzelne engagierte Lehrer, diese können jedoch nichts am System ändern. „Lehrer müssten an einem Kommunikationstraining teilnehmen“, fordert Khabirpour, „eigentlich müsste dies ein Teil ihrer Ausbildung sowie von Fortbildungen sein.“ Der frühere CPOS-Direktor weiß allerdings auch: „Lehrer stehen oft allein da.“ Er empfiehlt daher die Unterstützung durch Psychologen, die mit in die Klassen gehen, sowie durch Sozialarbeiter. Die Lehrer müssten sich zudem ihrer eigenen Vorurteile bewusst werden. Sie bewegen sich in der Regel ihre ganze Karriere über in dem Mikrokosmos Schule. Dass das Verhältnis von Lehrern und Eltern demnach eine Relation zwischen zwei Welten ist, stellt ein weiteres Problem dar. „Der Lehrer hat, je nach Kultur, einen unterschiedlichen Status in der Gesellschaft.“

Dass es mit der Schaffung internationaler Schulen, wie sie Minister Meisch vorantreibt, nicht getan ist, weiß Khabirpour. All dies helfe nicht, wenn es um die interkulturelle Kommunikation schlecht bestellt ist. Letztere „bezieht sich auf den Austausch von Informationen zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller Hintergründe“, erklärt der Psychologe. „Kulturelle Wirklichkeit umfasst die unterschiedlichen Werte, Normen, Traditionen und sozialen Strukturen, die das Verhalten und die Wahrnehmungen einer bestimmten Gruppe von Menschen prägen. Vorstellungen, Denkweisen und Gefühle werden durch die kulturelle Brille geformt. Dies kann zu Missverständnissen oder Fehlinterpretationen führen, wenn nicht genügend Sensibilität und Verständnis für die kulturellen Unterschiede vorhanden sind.“

Eine wichtige Funktion in der Interkultur hierzulande kommt dem Zentrum für interkulturelle Bildung (ikl) zu, das im Bildungs-, Kinder- und Jugendministerium angesiedelt ist und einst von der ASTI ins Leben gerufen wurde. „Seit 1989 gibt es uns, seither bieten wir den Schulen Programme und Projekte an“, erklärt Antónia Ganeto, Leiterin des Zentrums, „ebenso die Entwicklung von pädagogischem Material zu interkulturellen Themen für Fachkräfte aus dem Bildungswesen wie auch Fortbildungen.“ Ansprechpartner seien sowohl Schüler als auch Lehrer, ergänzt Projekt- und Kursleiter Pierre Dielissen. Es gehe darum, mit den ikl-Veranstaltungen die Schüler dazu zu bewegen, sich kritisch mit ihren eigenen Identitäten und Kulturen auseinanderzusetzen, zugleich aber andere besser verstehen zu lernen. Darüber hinaus müssten die sozialen Kompetenzen gefördert werden.

„Immer mehr Leute sind sensibilisiert für diese Themen“, weiß Antónia Ganeto, „an anderen wiederum beißt man sich die Zähne aus.“ Es sei zwar gut, wenn jeder sich damit beschäftige, allerdings könne man nichts erzwingen. Dies wirke häufig kontraproduktiv. Ein Ziel des Zentrums ist es, dass Interkulturalität zur Normalität wird, zum Standard. „Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg“, sagt Antónia Ganeto. „Bottom up statt Top down“, heißt die Devise. „So können wir die Bedürfnisse besser einschätzen“, erklärt sie. „Mittlerweile kommen ganze Schulzyklen zu uns.“ Nicht zuletzt hat die Arbeit des ikl zum einen zum Ziel, Diskriminierung zu bekämpfen und zugleich eine Resilienz aufzubauen. Auf dem Weg dahin gilt es nicht zuletzt, bestehende diskriminierende Machtverhältnisse zu erkennen. Diese reichen bis weit in die Kolonialzeit zurück. Eine Auseinandersetzung mit der Geschichte trägt dazu bei, zu begreifen, wie viele Vorurteile entstanden sind, diese zu hinterfragen und zu überwinden.

Antónia Ganeto und Pierre Dielissen
Antónia Ganeto und Pierre Dielissen Foto: Editpress/Julien Garroy

Nach den Worten von Fari Khabirpour steht das Bildungssystem „vor der dringenden Notwendigkeit, sich radikal zu verändern, um allen Kindern, aber vor allem jenen mit Migrationshintergrund, gerecht zu werden“. Dies erfordere eine tiefgreifende Umstrukturierung, beginnend mit der Ausbildung von Lehrern in interkultureller Kommunikation. Lehrkräfte müssen demnach lernen, Vorurteile gegenüber anderen Kulturen abzubauen, Empathie zu entwickeln und emotionale Kompetenz zu erlangen, um eine inklusive Lernumgebung zu schaffen. „Nur durch diese Veränderungen können wir sicherstellen“, so der Psychologe, „dass alle Schüler die gleichen Chancen auf eine angemessene Bildung erhalten, unabhängig von ihrer Herkunft.“

„Der Faktor Armut“

Dies gilt auch für die sozialen Unterschiede, gerade angesichts der Tatsache, dass im vergangenen Jahrzehnt der Anteil der Jugendlichen an der Bevölkerung, die armutsgefährdet sind, weiter gestiegen ist. Vergleicht man etwa die sogenannten Gini-Koeffizienten als statistisches Maß der Einkommens- und Vermögensverteilung eines Landes, zeigt sich nach Angaben der „Chambre des salariés“ (CSL), dass die Einkommensungleichheiten in Luxemburg zugenommen haben. „Der Faktor Armut“ spielt auch in der Bildungsungleichheit eine große Rolle. Die Mainzer Erziehungswissenschaftlerin Tanja Betz, die im vergangenen Jahr in Belval einen Vortrag über die „ungleichen Lebensbedingungen und Bildungschancen in Luxemburg“ hielt, erklärt im Interview: „In der pädagogischen Arbeit müsste man sich fragen, wie man zum Beispiel mit Kindern in Armutslagen umgeht, und die Lebensbedingungen der Menschen in der pädagogischen Arbeit berücksichtigen. Über diese Themen, vor allem über die gesellschaftlichen Unterschiede, wird gar nicht so sehr gesprochen. Das macht die pädagogische Arbeit schwierig.“

Tanja Betz leitete im Kontext ihres Besuchs verschiedene Workshops und stellte fest, dass viele Pädagogen „im Laufe ihrer Ausbildung nie mit Themen wie Armut in Kontakt gekommen sind, obwohl Luxemburg auch ein ausgesprochen ungleiches Land ist (…). Es besitzt nicht nur eine ausgeprägte Sprachenvielfalt, sondern auch handfeste sozioökonomische Unterschiede.“ Es müsste also verstärkt auf die Milieus und Lebenswelten der Kinder eingegangen werden. Tanja Betz betont, dass es ohne die Eltern nicht gehe, weiß aber auch: „Es ist ein dickes Brett, das man dabei bohren muss, eine große Herausforderung.“ Doch die Eltern müssten „ins Boot geholt“ werden, indem man ihnen verdeutlicht, dass es ohne sie nicht geht. Dabei könne mit schulischer Sozialarbeit Hilfe geleistet werden. Auch hierbei gilt, so die Erziehungswissenschaftlerin, dass die Sensibilität gegenüber Ungleichheiten „zum zentralen Bestandteil der Aus- und der Fortbildungen gemacht werde (…) und eine höhere Priorität erhalten“ müsse. Solange dies nicht der Fall ist, werde es so weitergehen wie bisher.

Tanja Betz forscht über die ungleichen Lebensbedingungen und Bildungschancen von Kindern
Tanja Betz forscht über die ungleichen Lebensbedingungen und Bildungschancen von Kindern Foto: privat