Eschs Sozialschöffe im InterviewBruno Cavaleiro: Gratis-Essensausgabe „kontraproduktiv zur Sozialarbeit“ 

Eschs Sozialschöffe im Interview / Bruno Cavaleiro: Gratis-Essensausgabe „kontraproduktiv zur Sozialarbeit“ 
Die „Street Angels“ mussten am Dienstag in Esch unverrichteter Dinge wieder abziehen Foto: Editpress/Alain Rischard

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Für Diskussionsstoff sorgt die Weigerung der Stadt Esch, eine Essensverteilung für Bedürftige der privaten Hilfsorganisation „Street Angels“ zu genehmigen. Bei der Verteilung handele es sich um keine echte Hilfe, so die Argumentation. Vielmehr würde sie die Bemühungen der Sozialdienste konterkarieren. Im Interview mit dem Tageblatt bezieht der Escher Sozialschöffe Bruno Cavaleiro (CSV) Stellung.  

LINK Lesen Sie zum Thema auch: Der Protest in Esch nach der Nicht-Genehmigung der Essensausgabe der „Street Angels“

Tageblatt: Herr Cavaleiro, warum hat die Gemeinde die Genehmigung zur Essensverteilung nicht erteilt?

Bruno Cavaleiro: Wir haben Dienste, die im Sozialbereich aktiv sind. Sie sind seit Jahren pädagogisch und mit ihren Kompetenzen unterwegs. Dann haben wir eine Reihe von Organisationen, die direkt oder indirekt eine Konvention haben und die wir unterstützen. Wir haben mit den „Street Angels“ gesprochen, weil wir der Meinung sind, dass eine solche Aktion kontraproduktiv ist. Ich erkläre mich: Wir haben kein Problem damit, dass Freiwillige sich für die Gesellschaft einsetzen. Im Gegenteil, wir unterstützen das. Problematisch ist es, wenn das Engagement ein Schuss nach hinten ist. Unsere Studien und Analysen haben ergeben, dass so etwas kontraproduktiv zur geleisteten sozialen Arbeit ist. Warum? Wenn man rein auf die primären Bedürfnisse eingeht, dann kann man den Menschen auf mittel- und langfristige Weise nicht helfen. Man gibt einem etwas, was er zwar in diesem Zeitpunkt braucht, aber man gibt ihm nichts, was ihn aus dem Problem herauszieht. Das ist die erste Feststellung. Die zweite ist, dass wir tatsächliche Dienste haben, die einerseits alimentär helfen und auch Kleider verteilen, u.a. die „Stëmm vun der Strooss“. Das erlaubt uns, im Rahmen der sozialen Koordination genau zu sehen, wo die Bedürfnisse sind, wo der Hebel angesetzt werden muss und wo nicht. Bei einer Essensverteilung der „Street Angels“ wird keine soziale Arbeit geleistet und da sehen wir das Problem. Wir wollen den Leuten etwas geben, aber das soll ein Mittel sein, um gleichzeitig Sozialarbeit leisten zu können. Um es einmal ein wenig grob zu erklären: Entweder wir geben den Leuten den Fisch oder wir geben ihnen die Angel.

Es gibt aber viele, die mit einer Angel nichts anfangen können. Mit anderen Worten: Ist das Elend dieser Leute nicht schon jetzt zu groß, dass man sagen müsste: Okay, dann haben sie wenigstens etwas zu essen?

Nein, das ist eine Aussage ohne weitere Analyse in der Szene. Ohne zu schauen, wo die Probleme sind und warum sie da sind und vor allem wie man den Leuten helfen kann. Oft hört man, dass die Leute keine andere Möglichkeit haben, aber das ist nicht immer so, im Gegenteil.

Sie haben von der „Stëmm vun der Strooss“ gesprochen. Da gibt es aber zum Beispiel nur mittags Essen.

Ja, sie bekommen mittags Essen und auch Brötchen. Die „Stëmm vun der Strooss“ wird momentan komplett neu organisiert. Wir bereiten eine Konvention vor, nach der die „Stëmm“ neue Räumlichkeiten bekommt und den ganzen Tag geöffnet sein wird, das heißt wir gehen in die Richtung.

Nun ist damit zu rechnen, dass es immer mehr Bedürftige geben wird …

Das Elend ist da, und wenn etwas in dieser Form verteilt wird, dann kommen sie von überall, ohne Fragen gestellt zu bekommen, ohne in eine Richtung orientiert zu werden. Das ist das, was wir nicht wollen, weil das die Sozialarbeit kaputtmacht. Auch deshalb haben wir im Streetwork damit aufgehört. Wenn man dort seine Zeit damit verbringt, zu verteilen, dann macht man keine soziale Arbeit und hilft den Menschen nicht, aus dem Elend herauszukommen. Die Rolle eines Streetworkers ist die eines Vermittlers.

Hat Esch denn genügend Streetworker?

Bruno Cavaleiro
Bruno Cavaleiro Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

Esch hat drei. Wenn Sie fragen, ob das reicht, dann sage ich: Es reicht nicht, wenn wir so weitergearbeitet hätten wie zuvor. Dann hätten auch 10 oder 20 nicht gereicht. Sie sind nicht zum Verteilen da und auch nicht, um in einem Büro eingesperrt zu sein und dort ein oder zwei Termine pro Tag zu haben. Ihr Name sagt es aus: Sie müssen unterwegs sind, um die Leute zu begleiten und zu unterstützen, sie zu anderen Hilfsangeboten zu orientieren. Und genau das machen sie. Etwas, das man auch nicht vergessen darf: Wir wissen, wer hier unterwegs ist und wo sie herkommen. Beispiel: Da kommen Flüchtlinge, um Essen abzuholen. Aber Flüchtlinge haben einen legalen Kader mit einer Reihe von Hilfen. Da können wir doch nicht hingehen und sie orientieren, sie gleichzeitig mit Essen unterstützen. Das ist das falsche Signal. Denn dann haben wir Menschen geholfen, die es eigentlich nicht brauchten, und anderen, bei denen wirklich Hilfe benötigt wäre, eventuell nicht. Deshalb ist eine solche Gratis-Verteilung kontraproduktiv.

Durch die Weigerung der Gemeinde fühlen sich die Betroffenen immer weiter in die Ecke gedrängt. Das war am Dienstagabend deutlich zu spüren. Zumal ja auch die Zeichen in der nationalen Politik, Stichwort Bettelverbot, in diese Richtung weisen …

Ich kann Ihnen garantieren, dass die Arbeit, die wir draußen machen, eine konstruktive und ernsthafte Arbeit ist. Und wir sind uns der Probleme der Menschen bewusst. Aber wenn wir eine gute Sozialarbeit machen wollen, dann müssen wir mit Profis aus dem Sozialbereich arbeiten. Ich will die Arbeit der Freiwilligen hier nicht infrage stellen – im Gegenteil, die machen das mit viel Herz. Aber weil sie es ohne didaktische Mittel oder Ausbildung machen, ist es, entschuldigen Sie den Ausdruck, nur ein kleines Pflaster.

Die Argumente der Freiwilligen sind aber recht einfach zu verstehen: „Die Bedürftigen haben Hunger und wir geben ihnen zu essen.“ Was ist falsch daran?

Falsch ist es, weil die Bedürftigen andere Anlaufstellen haben, wo sie Hilfe bekommen können. Und wenn wir das unterstützen, dann hintergehen wir all diese Anlaufstellen. Die Anlaufstellen, die organisierte und strukturierte Sozialarbeit leisten.

In Esch wird es kein Bettelverbot geben, das kann ich garantieren

Dass man mit so einer Antwort nicht zufrieden ist, wenn man helfen will, verstehen Sie doch sicherlich?

Deshalb habe ich sie ja auch in mein Büro eingeladen, um ihnen es ganz transparent zu erklären. Klar, dass sie nicht froh über die Entscheidung sind. Aber wir haben erklärt, dass sie die Genehmigung unter dieser Form nicht bekommen können. Wir haben ihnen gesagt: Bringt uns ein Konzept, ein Projekt mit professionellen Akteuren aus dem Sozialen, und wir analysieren das. Aber heute unter dieser Form ist das keine soziale Arbeit, die die Leute aus ihrem Elend herauszieht. Ich will keine Pflasterpolitik machen. Natürlich will ich, dass sie essen können, dass sie ein Dach über den Kopf haben. Es gibt Anlaufstellen, wo sie das auch bekommen können.

Wo würden sie denn in Esch abends um 19 Uhr etwas zu essen bekommen?

Wir haben die Übung schon gemacht, in solchen Situationen. Nochmal: Es ist eine schwierige Situation, um ein gesundes Gleichgewicht zu finden. Aber die Erfahrung und auch unsere Studien zeigen uns deutlich, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Mir liegt es formell am Herzen, die Leuten aus dem Elend herauszuholen. Und ihnen nicht nur für heute Abend etwas zu geben, wenn sie am Tag darauf erneut nichts mehr haben.

Was am Dienstagabend immer wieder Thema war, ist das Bettelverbot. Die Bedürftigen haben Angst, dass es trotz gegenteiliger Beteuerung, unter anderem von Bürgermeister Christian Weis, auch in Esch dazu kommen wird. Können Sie das ausschließen?

In Esch wird es kein Bettelverbot geben, das kann ich garantieren. Wir sind Esch und wir wollen das Problem mit unserer Sozialarbeit lösen. Wir werden dazu alle Mittel bereitstellen, das sieht man auch im Budget. Wir wollen, dass es den Leuten immer besser geht. Dafür engagiere ich mich.

Bereits Mitte Dezember hatte es Proteste der Bedürftigen gegen die Reorganisation der Essensausgabe der „Stëmm vun der Strooss“ gegeben. Bürgermeister Christian Weis und Sozialschöffe Bruno Cavaleiro stellten sich den Demonstranten.
Bereits Mitte Dezember hatte es Proteste der Bedürftigen gegen die Reorganisation der Essensausgabe der „Stëmm vun der Strooss“ gegeben. Bürgermeister Christian Weis und Sozialschöffe Bruno Cavaleiro stellten sich den Demonstranten. Foto: Editpress-Archiv/Alain Rischard