RusslandNawalny-Team rechnet in einer Doku mit Jelzin ab

Russland / Nawalny-Team rechnet in einer Doku mit Jelzin ab
Das Schicksal nimmt seinen Lauf. Silvester 1999, im Kreml: der russische Präsident Boris Jelzin (l.) und der russische Ministerpräsident Wladimir Putin Foto: Pool/dpa

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Das Team um den toten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny will mit einer Serie den Schuldigen für Russlands Armut und Russlands Krieg finden – und sorgt mit seiner recht einseitigen Verurteilung der 1990er Jahre für heftigen Streit unter liberal eingestellten Russinnen und Russen.

Der Titel ist so gesetzt, dass er an die sprachlichen Gebräuche des Putin-Regimes erinnert, mit all den stigmatisierenden Bezeichnungen, mit der Suche nach verallgemeinernden Listen angeblicher Feinde. „Die Verräter“, heißt die neue, mehrteilige Serie des Teams um den toten russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. In Weiß auf Rot erscheint die Überschrift über einem Bild des ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin.

Wie viele Teile es gibt, sagt Maria Pewtschich, die Macherin der Doku, nicht. Ihr geht es vor allem um eines: die Entlarvung Jelzins und seiner „Familie“ aus Oligarchen. Letztlich auch um eine Anprangerung der 1990er Jahre, die für die liberal gesinnten Russinnen und Russen als die Zeit der Freiheit und der Reformen gilt. Damit bedient sie auch das Putin’sche Narrativ von den „Wilden 1990ern“, deren Auswüchsen er, der dem Volk dienende Präsident, mit aller Macht den Garaus gemacht habe. Und nun, mit seiner „militärischen Spezialoperation“, dem Krieg in der Ukraine, eine „Gerechtigkeit“ wiederherzustellen versuche, die dem „einzigartigen, einmaligen Russland“ mit dem Ende der Sowjetunion genommen worden sei.

Pewtschich stellt die berechtigte Frage: „Wann und wie lief alles schief?“. Sie sucht nach den Verantwortlichen dafür, warum Russland so ist, wie es ist, und sich heute so verhält, wie es sich verhält. Das Übel liege in den 1990ern, sagt die 36-Jährige, deren Vater als Unternehmer in den 1990ern zu Geld gekommen war. Auch für Putin sind die 1990er das Schreckensbild, mit dem er seit bald einem Vierteljahrhundert Politik macht. „Spielen Sie Putin nicht in die Karten?“, wird Pewtschich von unabhängigen russischen Journalisten nun ständig gefragt, die aus dem Ausland für das russische Publikum senden. „Als hätten Putins Propagandisten Maria Pewtschich erfunden“, schreiben Kritiker der Doku erbost. Dass die 1990er aufgearbeitet werden müssten, um die bereits gemachten Fehler nicht noch einmal zu wiederholen, verneint niemand von ihnen. „Aber doch nicht auf diese eindimensionale, flache Agitprop-Art“, schimpft der politische Analyst Sergej Parchomenko, der in Westeuropa lebt.

Bereits Millionen Mal gesehen

Das Nawalny-Team will mit seiner Recherche für ein Umdenken in der Gesellschaft sorgen. Vor allem aber sorgt es für einen heftigen Streit unter den Menschen, die überhaupt noch offen sind für eine Diskussion in einer Gesellschaft, die vom Krieg zerfressen ist und von der große Teile im Exil leben. „Die Verräter“ zeigt auch einen Bruch der Generationen: Viele jüngere Menschen, die in den 1990ern oder erst später geboren sind, applaudieren Pewtschich, Ältere dagegen, die in den 1990ern auf die Straße gegangen waren, die sich über die neu gewonnenen Freiheiten freuten, die anfingen zu reisen, einst verbotene Bücher zu lesen und angstfrei die Regierung zu kritisieren, sind entsetzt über die „vereinfachende Polemik“ des Nawalny-Teams, wie viele von ihnen die Serie nahezu unisono bezeichnen. Mehr als fünf Millionen Mal wurde die erste Folge bereits angeklickt, mittlerweile wurden drei Folgen gesendet. Schon allein damit gibt das Nawalny-Team den Takt vor, wie es das bereits durch Nawalnys Enthüllungen über Putins Palast oder die Reichtümer seiner Entourage gewohnt war.

Dass die „Enthüllungen“ über den „korrupten Jelzin“ zum Teil derb in den sozialen Medien kritisiert werden, ist erneut ein Erfolg für die Mitstreiter Nawalnys. Sie kämpfen darum, das Erbe des geschundenen und in Haft umgekommenen Politikers weiterzutragen. Nawalny selbst war es, der nach seinem Urteil, mit dem er für 19 Jahre hinter Gitter gebracht wurde, im August 2023 einen Text schrieb, auf den sich seine langjährige Mitstreiterin Maria Pewtschich nun beruft. „Meine Angst und mein Hass“ hatte Nawalny seine Ausführungen genannt, die er selbst als „Bekenntnis“ bezeichnete. Darin geht er Jelzin hart an. „Ich hasse Jelzin und den Rest seiner korrupten ,Familie‘, die Putin an die Macht gebracht haben. Ich hasse alle, die alles verkauft und versoffen haben und die Chance, die sich unserem Land in den 1990ern bot, vertan haben“, hatte Nawalny geschrieben und damit schon damals für heftigen Widerspruch in der liberalen russischen Minderheit gesorgt. Diese Sätze gaben die Idee für Pewtschichs „Die Verräter“, die ihre Interpretation von „allem, was ich zu den 1990ern gelesen habe“ wiedergibt, wie sie selbst sagt. Noch lebende Zeugen dieser Zeit zu befragen, dafür sieht sie „keinen Bedarf“. Ihre Kritiker werfen ihr eine Vorverurteilung vor, weil sie taub für eine „zweite Meinung“ sei.

Ungelenkes Konstrukt einer Voreingenommenheit

Die Machart der Serie ist in der Tat primitiv. Pewtschich sitzt in einem abgedunkelten Raum an einem Tisch und trinkt – aus unterschiedlichen Tassen – Tee, während sie ihre Interpretation der Dinge darlegt. Die Fakten sind nicht neu: Da ist Jelzin, der dem Alkohol frönt und sich auf seinen Auslandsreisen daneben benimmt, da sind die Auswüchse des Raubtierkapitalismus, da sind die Oligarchen, die sich durch die Privatisierung die Filetstücke der zugrunde gegangenen sowjetischen Wirtschaft einverleiben und mit dem gewonnenen Geld die Politik kaufen. Das alles wird in „Die Verräter“ gezeigt, als wäre es in einem luftleeren Raum geschehen, als wären die 1990er, die die Serie anklagt, aus dem Nichts gekommen. Pewtschich erklärt das Fundament der Reformen nicht, geht nicht auf das ein, was der Zusammenbruch der Sowjetunion bedeutete, was er mit der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft machte. Aus der Perspektive von heute lassen sich die Fehler messerscharf analysieren, lässt sich jegliche „falsche Abbiegung“ darlegen. Der Perspektive von damals fehlte diese Analyse. So erscheint die Serie, die aufklären soll, als ungelenkes Konstrukt einer Voreingenommenheit. Als kompromissloses Ende der Debatte, obwohl eine echte Debatte über die 1990er heutzutage erst recht vonnöten wäre.