SerbienEin Jahr nach zwei Amokläufen tritt der Kampf gegen die Gewalt auf der Stelle

Serbien / Ein Jahr nach zwei Amokläufen tritt der Kampf gegen die Gewalt auf der Stelle
An der Vladislav-Ribnikar-Schule in Belgrad haben sich Familienangehörige und Freunde zum Gedenken an die Opfer versammelt Foto: AFP/Oliver Bunic

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Vor einem Jahr wurde Serbien durch zwei blutige Amokläufe erschüttert. Trotz einer monatelangen Protestwelle gegen die Gewalt scheint der Balkanstaat kaum Lehren aus dem Blutvergießen gezogen zu haben.

Unablässig rieselte der Regen an dem tristen Jahrestag auf die Schirme der bedrückten Trauergäste. Um 8:43 Uhr heulte am Freitagmorgen vor der Belgrader Vladislav-Ribnikar-Schule eine Sirene. Nur vereinzelt waren leise Schluchzer zu hören: Still gedachten Hunderte von Schülern, Eltern und Lehrern vor dem zur Gedenkstätte umfunktionierten Schuleingang der zehn Todesopfer einer Bluttat, die Serbien nachhaltig, aber erstaunlich folgenlos erschüttert hat.

Neun Mitschüler und der Schulportier verloren bei dem Amoklauf eines 13-jährigen Schülers am Morgen des 3. Mai 2023 im Kugelhagel ihr Leben. Einen Tag später ermordete ein 21-jähriger Nachahmer bei einem weiteren Amoklauf in zwei Dörfern unweit von Belgrad erneut acht Menschen. Beide Täter hatten sich aus den Waffenschränken ihrer Väter bedient.

Geschockt demonstrierten zehntausende Serben monatelang gegen die Verherrlichung der Gewalt – und die Machthaber des zerrissenen Balkanstaates. „Wir sind geeint in Schmerz und Trauer“, versicherte damals Serbiens populistischer Staatschef Aleksandar Vucic – und schlug erneut die von ihm wiederholt propagierte Wiedereinführung der Todesstrafe vor.

Ein Jahr später hat sich in dem in einer blutigen Gewaltspirale entgleisten Balkanstaat erstaunlich wenig getan. Vor einem Jahr sei die Forderung gewesen, dass Serbien still stehen müsse, „doch das ist nicht geschehen“, sagt die Psychologin Ana Mirkovic: „Stattdessen wurde nur vertuscht und unter den Teppich gekehrt. Jetzt haben wir Kinder, die mit Angst in die Schule gehen.“

Obwohl Belgrad nach den Amokläufen in einer hastigen PR-Aktion rund 100.000 der laut Schätzungen zwei Millionen illegalen Waffen im Land einsammeln ließ, hat sich an den Missständen nur wenig geändert: Angefangen beim illegalen Waffenarsenal, über Machthaber, die mit kriminellen Hooligan- und Drogenclans fraternisieren; Boulevardmedien, die gegen Andersdenkende hetzen, Kriminelle und Kriegsverbrecher verherrlichen; bis hin zu den fatalen Folgen einer staatlichen Personalpolitik, die eher auf das richtige Parteibuch statt auf Kompetenz setzt.

Eine Kehrtwende oder Aufarbeitung der fatalen Gewalteskalation ist ausgeblieben. Im Gegenteil: Die Aufrufe von Unicef und den Angehörigen, nicht die Täter in den Mittelpunkt der Berichterstattung zu stellen und zu verherrlichen, fanden bei Serbiens Boulevardmedien keinerlei Gehör.

Keinerlei Lösungen

Serbiens Machthaber schienen nach den Amokläufen vor allem um politische Schadensbegrenzung bemüht – und sind inzwischen längst wieder zu ihrer populistischen Tagesordnung übergegangen: Statt gegen die an den Schulen und in den Familien florierende Alltagsgewalt streitet Belgrad unter viel Mediengetöse gegen eine UN-Resolution zum Völkermord von Srebrenica.

Die Betroffenen wurden von Belgrad weitgehend sich selbst überlassen. Monatelang beharkten sich der zerstrittene Elternbeirat und Anhörige der ermordeten Kinder in einem fruchtlosen Zank, ob und wie ein Teil der Schule zu einem Gedenkzentrum umgewandelt werden soll: Der aus dem Ruder geratene Streit bot der Regierung eine willkommene Ausrede für ihr Nichtstun.

Nicht nur die überforderte Schuldirektion wurde im letzten Jahr bereits drei Mal ausgewechselt. Ein Zehntel der Schüler soll die Schule bereits gewechselt haben, weitere könnten folgen: Entnervte Eltern und Lehrer wittern in dem Regierungsvorschlag einer jahrelangen Auslagerung des Schulbetriebs ohne ein konkretes Renovierungsprojekt gar die Absicht, die von einer Elite- zu eine lästigen Problemschule mutierte Einrichtung langfristig zu eliminieren – und ihr Grundstück für lukrative Immobilienprojekte zu nutzen.

Von der „verpassten letzten Chance, diese Gesellschaft zu gesunden“, schreibt am Jahrestag ernüchtert die Zeitung „Danas“: Die zuständigen Institutionen hätten „keinerlei Lösung angeboten, sondern nur die Teilungen vertieft“.