TheaterVon Erinnerungen an Heiner Müller zu Gedanken an den eigenen Vater

Theater / Von Erinnerungen an Heiner Müller zu Gedanken an den eigenen Vater
Bernard Bloch, im Hintergrund Heiner Müller Foto: Bohumil Kostorhyz

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Die Annäherung des französischen Schauspielers und Regisseurs Bernard Bloch an den großen Theatermacher Heiner Müller ist zugleich auch eine Auseinandersetzung mit seinem eigenen Vater. „Die Väter haben immer Recht“ respektive „Les pères ont toujours raison“ besticht nicht zuletzt durch die Idee, aus ein und derselben Inszenierung mit zwei verschiedenen Schauspielern und in zwei verschiedenen Sprachen nahezu zwei unterschiedliche Stücke werden zu lassen.

„Vous connaissez Heiner Müller? Oui? Non? Un peu? Beaucoup? Pas du tout?“, fragt Bernard Bloch. Er hat das Publikum im Foyer des „Théâtre national du Luxembourg“ (TNL) empfangen und bittet es in den Theatersaal. Auf der Bühne führt ein roter Teppich eine Treppe hinauf zu einem Getränkeautomaten. Ich muss unweigerlich an „Die Kinder von Marx und Coca-Cola“ denken, den deutschen Titel von Jean-Luc Godards „Masculin – Féminin“. In dem Film arbeitet der Protagonist für ein Marktforschungsinstitut, obwohl er dem Kapitalismus gegenübersteht.

Links vorne spielt eine Pianistin das ganze Stück über. Es ist Chiahu Lee. Für die Musik verantwortlich zeichnet Pascal Schumacher. Rechts im Vordergrund (Bühnenbild: Raffëlle Bloch) befindet sich das Arbeitszimmer von Heiner Müller. Mehrere Schreibmaschinen stehen nebeneinander, als würden sie darauf warten, dass jemand auf ihnen schreibt. Darüber hinaus vermittelt der Denk- und Schreibort des deutschen Dramatikers, Regisseurs und Dichters (und Vielschreibers) mehr als den Anschein von kreativem Chaos. An der Zimmerwand hängen Masken, rechts und im Hintergrund ein Foto von Heiner Müller – wie er leibt und lebt. Gestorben ist er 1995 im Alter von 67 Jahren.

Unter den jüngeren Theaterinteressierten hat er vielleicht nicht mehr denselben Stellenrang wie unter seinen Zeitgenossen und vor allem unter jenen, die zum Ausgang der 80er Jahre, zur Wendezeit und in den ersten Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung mit der Welt der Bühne vertraut waren, als er dort eine gewisse Omnipräsenz besaß. „Es ist nicht lange her, dass er auf den Bühnen auf der ganzen Welt gespielt wurde und man regelmäßig darüber sprach, dass er den Literaturnobelpreis bekommen würde“, erinnert sich Bernard Bloch gegenüber den Zuschauern. „Aber wer noch heute? Selbst in Deutschland?“

Im Maschinenraum der Widersprüche

Spätestens seit Stücken wie „Hamletmaschine“ und „Germania Tod in Berlin“ wurde er zu einem der bekanntesten zeitgenössischen Dramatiker im geteilten Deutschland. Einige seiner Stücke waren in der DDR verboten und wurden zuerst im Westen uraufgeführt. „Mauser“ etwa in den USA. „Hamletmaschine“ war zehn Jahre vor der DDR-Erstaufführung schon 1979 in Paris zu sehen. Die Staatspartei ließ einige seiner Werke absetzen oder verbieten, wie zum Beispiel „Der Bau“. Müller wand sich danach verstärkt antiken Stoffen zu, um auf deren Basis Kritik am real existierenden System zu üben.

Der Autor, 1929 in Sachsen geboren, konnte durch seinen steigenden Kultstatus scheinbar mühelos zwischen Osten und Westen pendeln. Er oszillierte sozusagen als Ostkünstler über die Zonengrenze hinaus. Nach seiner jahrelangen Beschäftigung als fester Autor und Dramaturg am Berliner Ensemble ging er an die Volksbühne. In den frühen Jahren hatte er es vor allem Regisseuren wie Benno Besson, Ruth Berghaus oder Matthias Langhoff zu verdanken, dass seine Stücke gespielt wurden. Manch einer stänkerte, Müller habe wegen seines Bekanntheitsgrades Narrenfreiheit genossen. Andererseits wird vielfach behauptet, er habe für die Stasi als „IM Heiner“ gearbeitet. Doch blieb der kritische, unorthodoxe Kommunist stets der Antagonist des DDR-Systems, das ihn zugleich schikanierte und hofierte.

Ich kann mich daran erinnern, dass er gegen Ende der DDR-Ära längst zur Ikone geworden war, seine Markenzeichen waren Zigarre und Hornbrille – ein Che Guevara der Bühnenwelt, aber vor allem war er ein Ikonoklast, der mit seiner einzigartigen Poesie unter sparsamen Einsatzes von Worten, die saßen wie Hammerschläge, das Theater jener Zeit prägte, manche Stücke zerlegte, sezierte und wieder zusammensetzte und sich an der „Wunde Deutschland“ abarbeitete. Für Müller war das Theater in Brechts Sinne ein Laboratorium, um die gesellschaftlichen Widersprüche aufzuzeigen. Antworten interessierten ihn nicht, wie er mal sagte, sondern Probleme und Konflikte. Unvergesslich die achtstündige „Hamlet“-Aufführung mit der „Hamletmaschine“, was zu  „Hamlet/Maschine“ wurde. Die Hauptrolle spielte damals Ulrich Mühe, sowohl ein Großer des DDR-Theaters als auch später herausragender gesamtdeutscher Schauspieler.

Für mich war eines der größten Theaterereignisse Müllers letzte Inszenierung: „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ mit Martin Wuttke in der Hauptrolle. Die legendäre Version von Bertolt Brechts Stück, das in der Unterwelt von Chicago spielt und Wuttke als verfremdeten Al Capone alias Adolf Hitler zeigte, hatte im Juni 1995 Premiere im Berliner Ensemble (BE), ein halbes Jahr vor Müllers Tod. Die Inszenierung war auf den Bühnen von Avignon, Lissabon, Mailand und Istanbul ebenso zu sehen wie in Buenos Aires, Los Angeles und Delhi und ein Vierteljahrhundert später im BE noch auf dem Programm.

Bernard Bloch hat Heiner Müller zwischen 1982 und 1995 viermal getroffen: zweimal in dessen Haus in Berlin, im August 1982 sowie im Dezember 1989, wenige Wochen nach dem Fall der Mauer; zweimal in Paris, 1987 und im November 1995, kurz vor Müllers Tod. „Diese vier Begegnungen waren für mich wegweisend“, sagt Bloch. Für den Text dieses Ein-Personen-Stücks, begleitet zur Musik von Pascal Schumacher, habe er die Begegnungen neu erfunden. Wie mir Bloch später im Gespräch sagte, habe er beim Schreiben an seinen eigenen Vater gedacht und fügte daher dieses wichtige Element hinzu. Zu seinem sichtbaren Helden Müller sei ein verborgener Held hinzugekommen, sein Vater. Aus einem Stück über Müller wurde ein Stück über die Väter.

Bereits im Programm-Flyer ist zu lesen, dass Blochs Vater wie Müller in Deutschland geboren wurde und mit diesem „neben einem maßlosen Geschmack für Zigarren einen unbändigen Hang zur Ironie“ teilte. Es sei eine oft beißende und düstere Ironie gewesen, denn sie sei von den Erinnerungen an die Verfolgung geprägt gewesen: Blochs Vater musste mit 23 Jahren Deutschland verlassen, weil er Jude war. Bernard Bloch erzählt eine Anekdote aus dem Leben seines Vaters, die im Juni 1934 spielt: In einem Lokal setzt sich eine junge Frau zu ihm an den Frühstückstisch, beide haben die Nacht zusammen verbracht – und als eine Gruppe von SA-Männern den Saal betreten, fordert sie Blochs Vater zum Gehen auf. Wenn man sie mit ihm sehe, sei sie erledigt, sagt sie – „Rassenschande“. Blochs Vater beschließt, das von den Nazis beherrschte Deutschland zu verlassen. „Diese Frau hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet“, mutmaßt Bernard Bloch. „Und damit auch mir.“

Im ersten Moment der Betrachtung haben Blochs Vater und Heiner Müller nichts miteinander gemeinsam. Beide sind Väter, ein leiblicher – und vielleicht ein ideeller, ein Vorbild. Für Bloch ist Müller einer der prägendsten und größten Autoren des späten 20. Jahrhunderts. In den 80ern ist der Dramatiker auf dem Höhepunkt seines Schaffens, zumindest in Zahlen, mit etwa 300 Inszenierungen pro Jahr, am meisten waren es 1989 mit sage und schreibe 500. Vor ein paar Jahren sind es noch etwa 30 Neu-Inszenierungen gewesen. Doch welche Stücke sind heute zeitgemäß? Ist Müller noch aktuell? Auf jeden Fall, nicht nur wegen seiner Sprache und Dichtkunst, von der man sich etwa in dem posthum erschienenen Band „Warten auf der Gegenschräge“ überzeugen und begeistern lassen kann.

Für Bernard Bloch ist Heiner Müller als Intellektueller und Künstler eine Größe vor allem im Sinne seiner „liberté de pensée“. Es gab für ihn keinerlei Hindernis. „Er war ein Visionär“, sagt Bloch. „Denn er hat vieles von dem vorausgesehen, mit dem wir heute konfrontiert sind.“ Die globalen Krisen, das weltweite Desaster – schon bei seiner Rede auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 zeigte er, der sich unermüdlich an der „Wunde Deutschland“ abarbeitete, sich als Orakel, aber auch als Spielverderber unter all denen, die den Fall der Mauer bejubelten.

Tod an der Front der Dialektik

Dafür wurde er ausgepfiffen. Niemand wollte wissen, wovor er warnte, vor steigenden Preisen und wegfallenden Jobs. Die Mauer würde nicht mehr stehen, aber dafür das Geld herrschen. Widersprüche gehörten zu Müller. Vielleicht sind daher seine komplexen Stücke wieder aktuell, oder waren es immer. Stücke wie „Der Auftrag“, „Quartett“, „Germania 3 Gespenster am Toten Mann“ bis hin zu „Wolokolamsker Chaussee I-V“, einer nach seinen Worten „proletarischen Komödie“, in dem ein von seinen Vorgesetzten geopferter Polizist „an der Front der Dialektik stirbt“. Er wies auf die Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen hin, die noch heute herrscht. Er sagte voraus, dass Antisemitismus und Gewalt wieder aufleben würden.

Blochs Auseinandersetzung mit Müller und seinem Vater ist auch die mit den Vätern allgemein, von denen 1968 gesagt wurde, dass sie Unrecht hätten. Doch es kommt auf die Vätergeneration an. Die von Blochs Vater ist eine andere als die von Müller und die von heute. So wie es Bloch gelungen ist, aus ein und derselben Inszenierung gewissermaßen zwei zu machen. In der französischen Version spielt er sich selbst, in der deutschen übernimmt Marc Baum die Rolle.* Dies ergibt den Eindruck, als handele es sich um zwei unterschiedliche Stücke. Derselbe Text, dieselbe Inszenierung, zwei Schauspieler, das ergibt schließlich zwei verschiedene Geschichten. Eine geniale Idee, was sich zu überprüfen lohnt, indem man beide Versionen anschaut: zwei verschiedene Schauspieler, ein Text und zwei Geschichten – und eine gelungen umgesetzte Idee.

Bloch schließt sich dem Vater-Bashing der 68er nicht an. Er dreht den Spieß herum und macht daraus: „Die Väter haben Recht“. Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, habe sein Vater gesagt: „Jetzt werden sie zurückkommen.“ Eine dunkle Vorausahnung, ähnlich wie Müllers Prophezeiung. Am Ende wird einem bewusst, wie dieser skeptische Utopist und „Seismograph“, wie ihn Alexander Kluge nannte, heute noch zeitgemäß ist. Vielleicht mehr denn je.

* Eine Doppelvorstellung wird es übrigens am Sonntag, dem 21. April, geben: um 16 Uhr die französische Version mit Bernard Bloch, um 19 Uhr die deutsche mit Marc Baum. Dazwischen gibt Pascal Schumacher ein Konzert. Das Stück ist übrigens eine Koproduktion des TNL mit Le Réseau, La Filature Mulhouse.

Marc Baum in „Die Väter haben immer Recht“
Marc Baum in „Die Väter haben immer Recht“ Foto: Bohumil Kostorhyz