Doppelter KindsmordRabenschwarze Weiblichkeit: „Medea“ im Grand Théâtre

Doppelter Kindsmord / Rabenschwarze Weiblichkeit: „Medea“ im Grand Théâtre
Das Desaster nimmt seinen Lauf: Medea (Brigitte Urhausen) lässt der neuen Verlobten ihres Ehemannes Jason (Nicholas Monu) zwei Geschenke zukommen, die mit einem tödlichen Zauber belegt sind. Ihre Kinder sollen sie der Kontrahentin persönlich überbringen. Foto: Bohumil Kostohryz

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Mit der Kreation „Medea“ wird ein weltberühmter Stoff auf die Bühne des Grand Théâtre gebracht. Dass es sich bei dem Medea-Mythos um eine Erzählung handelt, die nach den äußersten Grenzen des Menschseins tastet, macht die Inszenierung sehr deutlich.

Medea ist eine Frau der Gegensätze und eine Frau der Extreme. Sie ist zur überbordenden Liebe zu ihrem Mann Jason fähig, aber auch zu unaussprechlichen Gräueltaten wie dem Mord an ihrem Bruder. Ihn zerstückelte sie nämlich auf der gemeinsamen Flucht mit Jason vor den Streitkräften des Herrschers Aietes, ihrem eigenen Vater, der sich nicht an eine Abmachung hielt, die er mit ihrem Geliebten getroffen hatte.

Die Geschichte der erbarmungslosen Königstochter hat so viele Künstler und Dichter inspiriert wie kaum ein anderer mythologischer Stoff. Das mag unter anderem daran liegen, dass Medea als Gestalt viele negativen Eigenschaften verkörpert, die dezidiert weiblich konnotiert sind: Sie ist gerissen, wankelmütig, scheinbar irrational, rachsüchtig, eifersüchtig, grausam und zu allem Überfluss auch noch zauberkundig – man hüte sich vor der Hexe.

Der Zorn der verschmähten Ehefrau

Was Medea so interessant macht, ist, dass viele ihrer charakterlichen Facetten die Geschlechterdichotomie jedoch zugleich aufzusprengen scheinen. So ist sie auch mutig, intelligent, mächtig und selbstbestimmt. Außerdem ist sie auch eine liebende Ehefrau und Mutter – zumindest bis ihr Ehemann Jason, dem sie in die Fremde gefolgt ist, sich wegen einer anderen Frau von ihr scheiden lassen möchte. Ihre Nebenbuhlerin heißt Kreusa, als Tochter des korinthischen Monarchen Kreon ist sie ebenfalls von königlichem Blut. Nach eigener Aussage verspricht sich Jason von ihr weitere Nachkommen, die aufgrund ihrer Machtstellung seinen bereits geborenen Kindern zu noch größerem Ruhm und Reichtum verhelfen. Diese Erklärung mag fadenscheinig klingen, aber Jason hält an ihr fest.

Hier setzt das von den hauptstädtischen Theatern produzierte Theaterstück „Medea“ an. Regie führt Rafael David Kohn, der zuvor eine neue (englische) Version der euripidischen Tragödie auf Grundlage der bestehenden Übersetzungen geschrieben und dabei die Sprache modernisiert hatte. Das – sehr gelungene – Bühnendesgin übernahm Anouk Schiltz und die Kostüme gestaltete Caroline Koener. Die Hauptrollen neben der von Medea übernahmen Nicholas Monu (Jason), Philipp Alfons Heitmann (Kreon), Julie Kieffer (Kreusa). Charlotte Woolfe spielt die Botin und Leiterin des Chors, Konstantin Rommelfangen und Elena Spautz die Diener und Hana Sofia Lopes und Whitney Fortmueller die Ammen. Das Stück zentriert sich aber in erster Linie auf Medea selbst, deren Figur wunderbar umgesetzt wurde von Brigitte Urhausen.

Eine Spur der Verwüstung hinterlassen

Was erzählt das Drama genau? Die verlassene Medea ist in Rage und soll sogleich mit ihren beiden Kindern ins Exil verbannt werden, weil sie sich über die neue Verlobte von Jason und deren Vater öffentlich ausgelassen hat. Sie fleht Kreon an, ihr einen einzigen weiteren Tag in Korinth zu gewähren, um ihren Aufbruch zu planen – und er willigt zähneknirschend ein. „I’m gonna regret this“, sagt Kreon, bevor er seine Entscheidung verkündet, und lässt damit schon den tragischen Ausgang der Dinge vorausahnen. Dass der König im Gespräch zugibt, dass er sich vor Medea fürchte, ist ein frappantes Moment, das von Anfang an deutlich macht: Diese Frau besitzt eine Macht, die sie von allen anderen Figuren im Stück grundlegend unterscheidet. Ihr schwarzes Gewand und ihre dunkle Haarpracht, die im krassen Kontrast zu den in Pastelltönen eingekleideten Korinthern und Bediensteten stehen, unterstreichen dies.

Medea bietet dem König Kreon (Philipp Alfons Heitmann) die Stirn
Medea bietet dem König Kreon (Philipp Alfons Heitmann) die Stirn Foto: Bohumil Kostohryz 

In den nächsten 24 Stunden sucht Medea das Gespräch mit Jason, dem sie wieder und wieder vorwirft, sich nicht an den Hochzeitsschwur gehalten zu haben. Sein Wortbruch und der damit einhergehende Verrat an ihr trifft sie (die selbst einmal ihre eigene Familie verriet) am meisten, denn er bedeutet, dass sie von nun an heimatlos und bar jeden gesellschaftlichen Schutzes ihr Dasein fristen muss. Medea wird zunehmend zum Spielball ihrer eigenen Gefühle, bleibt aber gleichzeitig soweit Herrin ihrer Sinne, dass sie einen raffinierten Plan aushecken kann. Sie gaukelt Jason bei ihrer nächsten Begegnung einen Sinneswandel vor und beteuert, dass sie mit seiner Heirat einverstanden sei. Sie lässt Kreusa verzauberte Geschenke überbringen, provoziert so ihren Tod. Kreon wird wenig später ebenfalls Opfer des Zaubers. Wer jetzt glaubt, das Unrecht sei angemessen vergolten und die Schneise der Zerstörung weit genug geschlagen worden, irrt: Medeas Rache kulminiert in der Tötung ihrer beiden geliebten Kinder. Damit möchte sie Jason ultimativ bestrafen, auch wenn sie als Mutter selbst sehr darunter leidet.

„Medea“ porträtiert auf gelungene Weise die Zerrüttung und innere Aufsplitterung einer Figur, die aufgerieben wird zwischen ihrem Hass und Vergeltungsdrang einerseits und ihrer Zuneigung gegenüber ihrem Nachwuchs andererseits. Sie entscheidet sich schließlich für die eigenhändige Tötung ihrer Kinder, trotz der Einwände des Chors, und bricht damit ein Tabu, das heute genauso unantastbar erscheint wie vor 2.500 Jahren, als sich der Dichter Euripides des Medea-Stoffs annahm und auf seiner Basis eine Tragödie verfasste. Als Figur stellt Medea das entfesselte weibliche Böse dar, doch ist sie auch eine tragische Figur, für die man als Zuschauer immer wieder auch Mitleid empfinden kann, wenn man sieht, wie sehr sie unter der Trennung von Jason leidet und wie sehr sie mit sich selbst ringt, bis sie schließlich einen Weg beschreitet, bei dem es kein Zurück mehr gibt. Die Widersprüchlichkeit ihrer Figur, die der Widersprüchlichkeit archetypischer Frauenbilder entspricht, spiegelt sich wundervoll in der zwischen Pol und Gegenpol schwankenden Performance der Hauptdarstellerin. So erweist sich „Medea“ als eine mit viel Leidenschaft vorgeführte Inszenierung, die einen Theaterbesuch allemal wert ist.

Die zurückgewiesene Ehefrau ist mit ihrem Schmerz (fast) ganz alleine, Gesellschaft leisten ihr nur die Bediensteten und Ammen, die auch als Chor agieren
Die zurückgewiesene Ehefrau ist mit ihrem Schmerz (fast) ganz alleine, Gesellschaft leisten ihr nur die Bediensteten und Ammen, die auch als Chor agieren Foto: Bohumil Kostohryz 

Info

Weitere Mitwirkende: Joël Mangen (Sound design), Fränz Meyers (Lighting design), Daliah Kentges (Assistant director), Joël Seiller und Meva Zabun (Make-up), Manuela Giacometti und Fabiola Parra (Kleidung), Anne-Marie Schwartz und Cathy Tinelli (Schneiderarbeit), Marko Mladjenovic (Requisiten)

Weitere Aufführungen: Mittwoch (16.03), Donnerstag (17.03) und Dienstag (22.03) um 20 Uhr, mit einer Einführung in das Stück durch Janine Goedert 30 Minuten vor jeder Aufführung