ErinnerungskulturUnterschiedliche Wege der Vergangenheitsbewältigung

Erinnerungskultur / Unterschiedliche Wege der Vergangenheitsbewältigung
Die Madres de Plaza de Mayo. Dritte von links ist die langjährige Vorsitzende Hebe de Bonafini (1928-2022). Foto: willposh auf flickr.com

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Von der juristischen und geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen während einer Diktatur oder eines Krieges bis zur möglichen Versöhnung – zwischen den Erinnerungskulturen bestehen viele Gemeinsamkeiten und Unterschiede, von Argentinien bis Südafrika.

Musik hat für Daniel Barenboim eine versöhnende Kraft. Sie suche die Einheit, verbinde und führe Kontraste zusammen, erklärt der Dirigent, Pianist und Mitbegründer des West-Eastern Divan Orchestra, das unter anderem aus arabischen und israelischen Musikern besteht. Der 1942 in Buenos Aires geborene Barenboim, der sowohl die israelische als auch die palästinensische Staatsbürgerschaft besitzt, hat kürzlich in der Süddeutschen Zeitung einen bemerkenswerten Beitrag unter dem Titel „Friedensbotschaft“ verfasst. Eingangs heißt es: „Nach dem barbarischen Terror der Hamas mag es naiv klingen: Genau jetzt müssen wir alle im Anderen den Menschen sehen.“

Versöhnung ist nur ein, wenn auch entscheidender, Teil der Erinnerungskultur und Vergangenheitspolitik, eine Stufe eines langen Prozesses, um nach dem Ende von Diktaturen, im Verlauf der Transition zur Demokratie oder nach Kriegen mit den von einem Regime begangenen oder im Laufe eines gewaltsamen Konfliktes geschehenen Verbrechen umzugehen – damit diese Verbrechen nie mehr geschehen. So lautet die zentrale Forderung der lateinamerikanischen Menschenrechtsbewegungen nach dem Ende der Militärdiktaturen der 1970er- und 1980er-Jahre „Nunca más!“ („Nie wieder!“). 

Die Verbrechen der Militärdiktatur

Argentinien war das letzte Land im lateinamerikanischen Süden, in dem die Militärs geputscht hatten. Als am 24. März 1976 eine Junta um General Jorge Rafael Videla gewaltsam die Macht ergriff, hatten die Streitkräfte in den Nachbarländern dies längst getan – etwa in Brasilien, Chile und Uruguay. Ein nicht geringer Teil der Argentinier begrüßte den Putsch, denn das Land war im Chaos versunken: Zwei Guerillaorganisationen, die linksperonistischen Montoneros und das Ejército Revolucionario del Pueblo (ERP) lieferten sich einen blutigen Kampf mit den staatlichen Sicherheitskräften. Politische Morde und Bombenattentate waren an der Tagesordnung. Die Todesschwadron Antikommunistische Allianz Argentiniens (Triple-A) entführte, folterte und ermordete ihrerseits linke Oppositionelle.

Ab 1976 kidnappten Geheimkommandos des Militärs und der Polizei Menschen aus ihren Häusern und von ihren Arbeitsplätzen. Sie wurden in geheime Folterzentren verschleppt. Die meisten von ihnen tauchten nie mehr auf. So ließen die Generäle fast eine ganze Generation von politischen Aktivisten aus Gewerkschaften, Menschenrechts- und Basisorganisationen ebenso wie kritische Journalisten und Schriftsteller verschwinden. Diese wurden zu „Staatsfeinden“ erklärt. Dieser „schmutzige Krieg“ wurde, wie in den anderen Ländern des südlichen Lateinamerikas, mit der „Doktrin der nationalen Sicherheit“ gerechtfertigt – oder, wie es der Brigadegeneral Ibérico Manuel Saint-Jean formulierte: „Erst werden wir alle Subversiven töten, dann töten wir ihre Kollaborateure, dann ihre Sympathisanten, danach die, die indifferent blieben; und zuletzt bringen wir die Ängstlichen um.“

Das berühmte Symbol der Madres: das Kopftuch
Das berühmte Symbol der Madres: das Kopftuch Foto: AFP/Emiliano Lasalvia

Die ersten Madres de Plaza de Mayo, die Mütter der Verschwundenen, kamen am 30. April 1977 zusammen, um sich auszutauschen. Die Frauen mit den weißen Kopftüchern begannen, ihre Märsche wöchentlich zu organisieren. Zuerst trugen die Mütter der „Desaparecidos“ (Verschwundenen) weiße Stoffwindeln mit, die sie zu Kopftüchern banden. Ein Marinekapitän gab sich als Bruder eines Verschwundenen aus, schleuste sich ein und verriet sie. Einige der Madres wurden, genau wie ihre Kinder, entführt und ermordet. Doch die Überlebenden ließen sich nicht unterkriegen. Einige suchten ihre Enkelkinder, die mit ihren Eltern verschleppt oder in den Folterzentren geboren wurden. Die „Abuelas de Plaza de Mayo“ waren entstanden. Der Anwalt Emilio Mignone, der Vater einer Verschwundenen, gründete das „Centro de Estudios Legales y Sociales“ (CELS). Manche Organisationen gab es schon vorher, wie etwa den „Servicio Paz y Justicia“ (Serpaj) des 14 Monate lang inhaftierten und 1980 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Adolfo Pérez Esquivel.

Der verlorene Falkland-Krieg 1982 führte schließlich zum Kollaps der Militärdiktatur. Am 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte, des Jahres 1983, war das Regime am Ende und Raúl Alfonsín, Kandidat der sozialdemokratischen Unión Cívica Radicál (UCR), der ältesten bis heute existierenden Partei Argentinien, trat das Amt als erster frei gewählter Präsident des Landes nach der Diktatur an. Er hatte im Wahlkampf die umfassende Aufarbeitung der Diktaturverbrechen versprochen. Die frisch zusammengetretene Abgeordnetenkammer stimmte einem Gesetzentwurf zur Aufhebung der von den Militärs erlassenen Amnestie zu. Alfonsín veranlasste nach nur drei Tagen die Verhaftung von neun Junta-Mitgliedern. Er reagierte damit auf den öffentlichen Druck der starken Menschenrechtsbewegung.

Die Nationale Kommission über das Verschwindenlassen von Personen (Conadep) trug in neun Monaten mehr als 50.000 Seiten Beweismaterial über die Art und das Ausmaß der Repression zusammen. Im Abschlussbericht dokumentiert sie 8.963 Fälle gewaltsamen Verschwindenlassens und stellte 340 Gefängnisse und Folterzentren fest. Insgesamt wurden mehr als 1.300 Personen genannt, die aktiv an der Repression beteiligt gewesen waren. Nach wenigen Wochen wurde die knapp 500 Seiten lange Buchfassung unter dem Titel „Nunca Más“ (Nie wieder) mehr als 150.000-mal verkauft. Weil das Oberste Militärtribunal sich weigerte, ein Urteil zu sprechen, wurden die Verfahren gegen die neun Mitglieder der ersten drei Militärjuntas einem Zivilgericht übertragen.

Die Generäle vor Gericht

Bei den öffentlichen Anhörungen wurden mehr als 800 Zeugen gehört. Fünf ehemalige Junta-Mitglieder wurden zu langen Haftstrafen verurteilt. Vier Offiziere wurden freigesprochen. In keinem anderen lateinamerikanischen Land waren die Hauptverantwortlichen eines Militärregimes durch ein demokratisch legitimiertes Zivilgericht verurteilt worden. Allerdings verweigerte die Militärführung jede Zusammenarbeit bei der gerichtlichen Aufarbeitung der Verbrechen. Mit dem sogenannten Schlusspunktgesetz wurde im Dezember 1986 eine Frist von 60 Tagen festgesetzt, nach deren Ablauf keine weiteren Klagen gegen ehemalige Mitglieder der Militärregierung mehr eingereicht werden konnten. Und durch das Befehlsnotstandsgesetz im Juni 1987 sank die Zahl der Militärs, die sich vor Gericht verantworten mussten, von 370 auf etwa 40.

Als das Interesse an den Menschenrechtsfragen im Zuge der sich verschärfenden Wirtschaftskrise gesunken war, begnadigte Alfonsíns Nachfolger Carlos Menem 1989 und 1990 Militärs, die bereits verurteilt worden waren oder noch vor Gericht standen. Die peronistische Regierung begründete das damit, dass eine Politik des Schlussstrichs die unabdingbare Voraussetzung für die Konsolidierung der Demokratie und für die ökonomische Stabilität des Landes sei. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet verabschiedete das Parlament zwischen 1992 und 1994 auf Drängen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission Gesetze zur finanziellen Entschädigung der ehemaligen politischen Gefangenen und der Angehörigen von Verschwundenen.

Derweil versuchten argentinische Anwälte und Gerichte, die Lücken der Amnestiegesetze zu nutzen, um neue Strafverfahren zu eröffnen. Junta-Mitglieder wie Videla mussten sich erneut vor Gericht verantworten, unter anderem wegen ihrer Beteiligung an der systematischen Entführung und Zwangsadoption der Babys von Verschwundenen. Mit dem Amtsantritt von Präsident Nestor Kirchner im August 2003 gewann die Aufarbeitung eine neue Dynamik. Er trat offen für eine Revision der Amnestiegesetze ein. Deren Nichtigkeit hatte bereits ein Gericht im März 2001 erklärt. Das Parlament annullierte das Schlusspunkt- und das Befehlsnotstandsgesetz, das Oberste Gericht bestätigte im Juni 2005 deren Verfassungswidrigkeit. Ende 2005 befanden sich nach CELS-Informationen 180 Militär- und Polizeiangehörige in Haft, gegen 400 weitere Personen wurde ermittelt. Auf dem Gelände der einstigen Marine-Mechanikerschule (ESMA) in Buenos Aires, eines berüchtigten Folterzentrums, wurde eine Gedenkstätte eingerichtet.

Ende der Straflosigkeit

Vor nicht langer Zeit wurden Ex-Diktatoren und ihre Helfer allenfalls ins Exil geschickt, wo sie einen weitgehend unbehelligten Lebensabend verbrachten. Doch seit einigen Jahren landeten Täter zunehmend auf der Anklagebank. Dies ist nicht zuletzt den Menschenrechtlern zu verdanken, die sich akribisch bemühten, die Verbrechen und die Schicksale der Opfer aufzuklären und die Täter ihrer Strafe zuzuführen. Neue Maßstäbe im internationalen Recht wurden gesetzt. Ein Ende dieser Straflosigkeit ist ein wichtiger Schritt in der Vergangenheitsbewältigung eines Landes.

Die Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg gegen führende Nazis war der erste Teil der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen des NS-Regimes, weitere Etappen mussten folgen. Denn die Verbrechen des deutschen Faschismus sind weitgehend straffrei geblieben. Mit den Nürnberger Prozessen erhielt der Rechtsbegriff der „Crimes against humanity“ Einzug in das moderne Völkerstrafrecht, also Verbrechen gegen die Menschheit, die der universellen Rechtsprechung unterliegen und strafrechtlich an jedem Ort der Welt verfolgt werden müssen.

Organisationen wie etwa das Simon Wiesenthal Center hatten sich die Aufklärung der Verbrechen und die Erinnerung an sie zur Aufgabe gemacht. In mehreren Ländern ging es darum, die „Kultur einer Straflosigkeit schwerer Menschenrechtsverletzungen zu durchbrechen“, schreiben Bianca Schmolze und Knut Rauchfuss in ihrem Buch „Kein Vergeben: Kein Vergessen“ (2009) – einer jener Grundsätze, mit denen in weiten Teilen der Welt Menschen „um ihr Recht auf Anerkennung des Erlittenen kämpfen“. Die beiden Autoren zeigen die unterschiedlichen Strategien, mit den Verbrechen der Vergangenheit umzugehen. Dabei fiel ihnen auf, dass erst mit dem Ende des Kalten Krieges schrittweise an jene Rechtsgrundsätze angeknüpft werden konnte, „die mit den Nürnberger Prozessen ihre Weltpremiere hatten“. Bis dahin stand jede Form einer überstaatlichen Strafverfolgung hinter dem Ost-West-Konflikt zurück, die Souveränität der innerstaatlichen Rechtsprechung galt als unantastbar. „Nichteinmischung“ lautete die Devise. Die Entführung des Holocaust-Verbrechers Adolf Eichmann und seine Verurteilung in Israel blieb eine der wenigen Ausnahmen.

Die Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin
Die Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin Foto: dpa/Paul Zinken

Den Menschenrechtsorganisationen fehlten die nötigen Rechtsinstrumente. Diese beschränkten sich auf die Genfer Konventionen und wenige andere. Allmählich kamen neue Instrumente hinzu, wie etwa 1985 die Konvention der Vereinten Nationen gegen die Folter. Schließlich verabschiedete die UN-Generalversammlung im Juli 1998 das Römische Statut des International Criminal Court (ICC). Dieser Internationale Strafgerichtshof kann seither Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit individuell strafrechtlich verfolgen.

Auch wenn es im Zuge des „Krieges gegen den Terror“ seit 2001, so Schmolze und Rauchfuss, „ein weltweites Rollback in Menschenrechtsfragen“ gab, nahm der ICC am 1. Juli 2002 in Den Haag seine Arbeit auf. Im August 2004 formulierte der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan die Grundsätze für eine nachhaltige Vergangenheitspolitik. Demnach versteht man unter einer „Transitional justice“ die verschiedenen Prozesse und Mechanismen einer Gesellschaft, die „zur Aufarbeitung von massiven Übergriffen in der Vergangenheit“ erfolgen und dazu dienen, „Verantwortlichkeiten zu klären, Gerechtigkeit wiederherzustellen und eine Versöhnung zu ermöglichen“.

Erinnerungskultur in Luxemburg

Die Erinnerungskultur ist sicherlich von Land zu Land unterschiedlich. In Luxemburg war sie lange Zeit vom Gedenken an die Widerstandskämpfer geprägt, 1956 etwa wurde das Resistenzmuseum in Esch eröffnet. Das „Monument national de la solidarité“ wurde 1971 auf dem „Kanounenhiwwel“ in Luxemburg-Stadt eingeweiht. Das Großherzogtum galt als „Nation von Märtyrern und Opfern“, wie es der Historiker Benoît Majerus 2012 in dem Artikel „Besetzte Vergangenheit“ ausdrückte. Erst nach und nach rückten bisherige Tabuthemen wie die Kollaboration und die Judenverfolgung verstärkt in den Vordergrund. Zugleich wurden an mehreren Orten des Landes sogenannte Stolpersteine verlegt. Allmählich verlagerte sich die Aufarbeitung der luxemburgischen Geschichte während der Besatzungszeit weg vom „Mythos der aktiven Auflehnung“, wie es der Historiker Denis Scuto ausdrückte, der mit der neuen Generation von Geschichtswissenschaftlern diesen Stein ins Rollen brachte. So etwa Vincent Artuso, der im Februar 2015 einen Forschungsbericht veröffentlichte, in dem es um die Mitverantwortung der Luxemburger Verwaltung für die Judenverfolgung ging – mit dem Fazit, dass es durchaus eine institutionelle Kollaboration mit dem Naziregime gab. Die Regierung entschuldigte sich offiziell bei der jüdischen Gemeinschaft.

Erinnerungskultur in Luxemburg: das Shoah-Mahnmal „Kaddisch“
Erinnerungskultur in Luxemburg: das Shoah-Mahnmal „Kaddisch“ Foto: Editpress/Claude Lenert
Erinnerung dient der Orientierung in einer Gegenwart zu Zwecken künftigen Handelns

Harald Welzer, Sozialpsychologe

So unterschiedlich die jeweilige Erinnerungskultur ist, so sehr gibt es jedoch auch Gemeinsamkeiten, die von der Gedenkstättenpädagogik, wie es der deutsche Sozialpsychologe Harald Welzer nennt, bis hin zu der Vermittlung des Geschichtsunterrichts reicht und auf eine „historisch-moralische Bildung“ abziele, „die zum einen Nationalsozialismus und Holocaust historisch verständlich machen, zum anderen Persönlichkeiten bilden soll, die sich gegenüber massen- oder völkermörderischer Gewalt widerständig verhalten können“. Erklärte Erziehungsziele, die „eine Reihe europäischer und nichteuropäischer Staaten“ teilen, sind „das Einüben von Demokratiefähigkeit und die Entwicklung von Zivilcourage“. Welzer unterscheidet zwischen nationaler und transnationaler, privater und öffentlicher Erinnerungskultur. Er plädiert dafür, „die Erinnerungskultur in Richtung Zukunft neu zu justieren“. Sie diene der „Orientierung in einer Gegenwart zu Zwecken künftigen Handelns“ – als eine Art „Zukunftsgedächtnis“.

„Unbequeme Vergangenheit“

Wie schwierig die Aufarbeitung der Vergangenheit in einem autoritären Staat ist, zeigt der russische Philologe und Publizist Nikolai Epplée in seinem Buch „Die unbequeme Vergangenheit“ über Russland, wo eine Erinnerungskultur von oben verordnet wird und Initiativen von unten, wie die im Dezember 2021 verbotene Menschenrechtsorganisation „Memorial“, verboten wurden. Epplée geht vergleichend vor: Im ersten Teil seines Buches zeigt er, wie „die Erinnerung an die sowjetische Vergangenheit Russland so fest im Griff hat“. Der Autor nennt das Unsichtbarmachen von Vergangenheit „die unmenschlichste und auch bornierteste Art ihrer Bewältigung“. Er spricht von einer „geschichts- und erinnerungspolitischen Blockade“.

Die Erinnerungspolitik des Putin-Regimes relativiert und verfälscht die Vergangenheit im Sinne einer staatlichen Geschichtsideologie, nach dem Motto: Geschichte wird gemacht – von den Machthabern. Und im Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt er, dass der russische Überfall auf die Ukraine die Fundamente des historischen Gedächtnisses in Russland ändert – und den Nimbus als Faschismus-Bezwingers, das zentrale Geschichtsnarrativ über Jahrzehnte, zerstört. Epplée widmet sich ausführlich der Geschichte der Erinnerungskultur in sechs Ländern: Argentinien, Spanien, Südafrika, Polen, Deutschland und Japan.

Spanien hat ihn mit seinem jahrzehntelangen Pakt des Schweigens über die Gewalt der Franquisten und dem anschließenden Bruch dieses Schweigens mehr als alle anderen Fälle an die Verhältnisse im heutigen Russland erinnert. Argentinien ist das Land, „in dem das Erbe einer Diktatur mit einer sehr geringen Beteiligung äußerer Kräfte bewältigt wurde“. Unter Präsident Néstor Kirchner, der während seiner Studienzeit den Montoneros zumindest nahestand, und seiner Witwe und Nachfolgerin Cristina Fernández de Kirchner, wurde die Vergangenheitsbewältigung regelrecht institutionalisiert und Aufklärungsarbeit vorangetrieben, über die Aufarbeitung besteht seither größtenteils Konsens. Die Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur in Argentinien ist vorbildlich: 1.192 Personen wurden verurteilt, etwa 20 Prozesse sind noch im Gange. Die ESMA, das frühere Folterzentrum der Marine, wurde als Museum und Gedenkstätte zum Weltkulturerbe erklärt.

Versöhnung in Südafrika

Verbitterung ist ein Luxus, den wir uns als Land nicht leisten können

Nelson Mandela, erster schwarzer Präsident Südafrikas

Der ultrarechte Präsidentschaftskandidat Javier Milei, der das Establishment der „Politikerkaste“ angreift, stellt den Menschenrechtskonsens infrage und zieht die Zahl der 30.000 „Verschwundenen“ in Zweifel. Seine Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, Victoria Villaruel, stammt aus einer Famillie von Militärs und ist Tochter eines Obersts, der Mitte der 70er-Jahre an der Operativa Independencia, der ersten großen Aktion im „schmutzigen Krieg“ mitgewirkt hatte. Sie relativiert die Verbrechen der Militärs, indem sie auf die Bombenattentate der linken Guerillagruppen hinweist. Villaruel fordert für deren Opfer Entschädigungen, wie sie für die Gegenseite längst üblich sind. Es ist nicht zu wünschen, dass sie zusammen mit Milei am 10. Dezember, auf den Tag 40 Jahre nach Argentiniens Rückkehr zur Demokratie, das Amt der Vizepräsidentin antritt.

Symbolfigur der Versöhnung: Nelson Mandela
Symbolfigur der Versöhnung: Nelson Mandela Foto: Wikimedia Commons

Einen ganz anderen Ansatz der Vergangenheitsbewältigung verfolgte Südafrika nach dem Ende der Apartheid. Dort wurde 1995, ein Jahr nach den ersten freien Wahlen, die Truth and Reconcialiton Commission (TRC) ins Leben gerufen. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission versuchte, durch Dialog und Versöhnung zwischen den Tätern und Opfern die erlittenen kollektiven Traumata zu bewältigen. Sie arbeitete bis 1998 und hörte viele Opfer politischer Gewalt an, die zum Teil finanzielle Entschädigungen erhielten. Zugleich wurden viele Täter amnestiert. Von den mehr als 7.000 Antragstellern wurde knapp 5.400 eine Amnestie verweigert. Südafrika hat eine einzigartige Ideologie der Vergebung und der Ideologie entwickelt, schreibt Nikolai Epplée. Oder, wie es Nelson Mandela formulierte: „Verbitterung ist ein Luxus, den wir uns als Land nicht leisten können.“ Stattdessen gelte es, die fortdauernden Nachwirkungen der Vergangenheit aufzuheben.

de Jang den Daafen
28. Oktober 2023 - 13.12

Man kann nicht genug an die Greueltaten vergangener Diktaturen ( Nazismus, Faschismus, Kommunismus ) erinnern und auf die gegenwärtigen Ungerechtigkeiten und kriegerischen Aseinandersetzungen weltweit hinweisen und sie aufs Schärfste verdammen. Die Menschen können grausamer als die Bestien ( wilde Tiere ) sein. Der Verstand, die Vernunft, der Respekt, die menschliche Würde, die Menschlichkeit überhaupt scheinen bei Vielen nicht vorhanden zu sein.