Filmkritik„La vraie famille“: Wenn Pflegeeltern loslassen müssen

Filmkritik / „La vraie famille“: Wenn Pflegeeltern loslassen müssen

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„La vraie famille“ des Regisseurs Fabien Gorgeart zeigt nicht nur, wie schön und schmerzhaft Elternliebe sein kann, sondern wirft auch ein Licht darauf, was Elternschaft überhaupt bedeutet.

Was macht eine Familie aus? Definiert sie sich durch Blutsverwandtschaft, emotionale Nähe oder beides? Und wie sieht es mit der Eltern-Kind-Beziehung aus: Wen nenne ich „Papa“ und wen „Mama“? Müssen das die Menschen sein, die mir das Leben geschenkt haben? Oder sind es jene Bezugspersonen, die um mein Wohlergehen besorgt sind, die mich lieben und sich um mich kümmern, solange ich selbst noch nicht dazu in der Lage bin?

„La vraie famille“ von Fabien Gorgeart erzählt eine äußerst berührende Geschichte, die zeigt, dass das Band zwischen Eltern und Kind keins sein muss, das mit der biologischen Abstammung zusammenfällt. Aber: Das macht das Miteinander nicht unbedingt leichter.

Ein Kind zwischen zwei Familien

Würde man die 34-jährige Anna (Mélanie Thierry) fragen, wie viele Kinder sie hätte, würde sie – wohl ohne mit der Wimper zu zucken – sagen: drei. Sie lebt mit ihrem Ehemann Driss (Lyes Salem), ihren zwei kleinen Söhnen und ihrem Pflegekind Simon (Gabriel Pavie) unter einem Dach. Simon wurde mit 18 Monaten bei der Familie untergebracht, jetzt ist er sechs und spricht Anna selbstverständlich mit „Mama“ an.

Als Simons biologischer Vater Eddy (Félix Moati), der seinen Jungen nach dem Tod seiner Frau weggegeben hat, den Wunsch äußert, seinen Sohn wieder bei sich aufzunehmen, beginnt für Anna ein unglaublich schmerzhafter Verlustprozess, dessen einzelne Etappen der Film mit enormer Sensibilität nachzeichnet.
Wundervoll dabei ist, dass „La vraie famille“ zwar den Schwerpunkt auf Annas Kummer und ihre inneren Konflikte legt, jedoch nicht für sie Partei ergreift: Ihr Leid wird filmisch ebenso entfaltet wie Eddys eigener Schmerz und seine offensichtliche Zuneigung zu seinem Sohn.

„Ich liebe dich“, flüstert er einmal Simon ins Ohr, während er ihm zärtlich über den Kopf streicht. Mitnichten ist er ein vernachlässigender oder egoistischer Vater, der Anna das Kind entreißen und so das Glück der Pflegefamilie zerstören möchte. Und doch ist er unweigerlich Teil von etwas, das bei Anne wie auch bei Simon tiefe emotionale Wunden hinterlassen wird.

„La vraie famille“ ist ein kinematografisches Meisterstück, weil man sich als Zuschauer in jeden der Beteiligten hineinversetzen und seine Sicht verstehen kann. Der Film macht deutlich, dass es Grenzsituationen im Leben gibt, in denen niemand Recht oder Unrecht hat. In einigen Fällen sind alle Beteiligten Verlierer, egal auf welcher Seite man steht.

Nicht alles eitel Sonnenschein

Seine poetische Kraft zieht Gorgearts Werk aus den vielen lichten Momenten, die es abbildet: die Schwimmbadbesuche der Familie während ihres Sommerurlaubs, die Spielereien der Kinder vor dem Zubettgehen, die gemeinsamen Abendessen und auch das in den Bergen verbrachte Weihnachtsfest – obwohl auf diesem Ausflug schon ein dunkler Schatten liegt. Denn Simon hätte dieses Fest eigentlich mit seinem Vater verbringen sollen und so ist ein Konflikt mit der für die Familie zuständigen Sozialarbeiterin bereits vorprogrammiert.

„La vraie famille“ offenbart, wie schön ein „full house“ mit jungen Menschen sein kann, idealisiert das Familienleben jedoch nicht: So liegen sich Kinder und Eltern auch mal in den Haaren und schreien gegenseitig an. Die Streitigkeiten sind ebenso drastisch wie normal, weil sie zum Alltag vieler Familien dazugehören. Bei der Pflegefamilie – das wird schnell klar – ändern diese Auseinandersetzungen aber nichts an der Liebe, die die Einzelnen füreinander empfinden. Ihre Beziehung wirkt echt und tief, auch dank der grandiosen Schauspielleistung der Darsteller.

Kein salomonisches Urteil

Natürlich fühlt man sich als Zuschauer schließlich auch an die Erzählung über das Urteil von König Salomo erinnert. Man kennt die Geschichte: Zwei Frauen treten im Streit vor den weisen Herrscher, beide behaupten sie, die Mutter vom Kind zu sein, das sie vor dem Thron niederlegen. Der Mann reagiert auf die Beschwerden der Frauen, indem er sagt, man solle den Säugling einfach in zwei schneiden und jeder Klägerin eine Hälfte geben. Prompt bettelt ihn eine Frau – die wahre Mutter – an, man möge der anderen das Baby überlassen. Daraufhin wird ihr das Kind anvertraut. Die Moral: Elterliche Liebe heißt Loslassen-Können.

Im Kontext von „La vraie famille“ wirkt diese Erzählung fast zynisch, obgleich Anna eben genau vor dieser emotionalen Aufgabe steht: Ihren Jungen Simon muss sie loslassen. Erstens, weil sie als Pflegemutter rechtlich dazu verpflichtet ist, und zweitens, weil sie sieht, wie Simon, der plötzlich zwischen zwei Stühlen sitzt, unter dieser Zerrissenheit leidet. Ihr Schicksal erweist sich als ein gutes Stück tragischer als das der Mutter in der Geschichte, aber dafür ist der Film umso ergreifender – und vielleicht auch näher dran an der Wirklichkeit.