ForumKünstliche Intelligenz: Die Geschichte zeigt uns die Zukunft

Forum / Künstliche Intelligenz: Die Geschichte zeigt uns die Zukunft
KI-Roboter Sophia, seit Oktober 2017 saudische Staatsbürgerin Foto: AFP/Sakis Mitrolidis

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In ihrem Beitrag befassen sich Daron Acemoglu und Simon Johnson mit der Frage, wie Künstliche Intelligenz eingesetzt werden kann. Ob Maschinen Arbeitsplätze vernichten oder schaffen, hänge davon ab, wie sie genutzt werden und wer diese Entscheidungen trifft, sagen die Autoren. Aus dem Englischen von Jan Doolan.

Boston: Es könnte scheinen, als wären Künstliche Intelligenz und die von ihr ausgehende Bedrohung für gute Arbeitsplätze ein völlig neues Problem. Doch können wir nützliche Hinweise, wie wir auf sie reagieren sollten, im Werk von David Ricardo finden, einem der Gründerväter der modernen Ökonomie, der die Industrielle Revolution in Großbritannien aus erster Hand miterlebte. Die Evolution seines Denkens, einschließlich einiger von ihm übersehener Punkte, hält viele hilfreiche Lehren für uns heute bereit.

Die Technologiebosse des privaten Sektors versprechen uns eine bessere Zukunft mit weniger Stress bei der Arbeit, nicht so vielen langweiligen Sitzungen, mehr Freizeit und womöglich sogar einem universellen Grundeinkommen. Aber sollten wir ihnen glauben? Viele Menschen könnten schlicht ihren – von ihnen als gut betrachteten – Arbeitsplatz verlieren und wären dann gezwungen, eine schlechter bezahlte Arbeit anzunehmen. Schließlich übernehmen Algorithmen schon jetzt viele Aufgaben, die gegenwärtig noch die Zeit und Aufmerksamkeit von Menschen erfordern.

In seinem bahnbrechenden Werk „Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung“ aus dem Jahr 1817 vertrat Ricardo eine positive Sichtweise in Bezug auf die Maschinen, die zu diesem Zeitpunkt bereits die Baumwollspinnerei revolutioniert hatten. Der herkömmlichen Meinung der damaligen Zeit folgend erklärte er vor dem britischen Unterhaus, dass „die Maschinerie die Nachfrage nach Arbeitskräften nicht verringert hat“.

Die Automatisierung der Spinnereien seit den 1770er Jahren hatte den Preis gesponnener Baumwolle gesenkt und die Nachfrage nach der ergänzenden Aufgabe, aus der gesponnenen Baumwolle fertige Stoffe zu weben, erhöht. Und da die Weberei vor den 1810er Jahren fast gänzlich von Hand erfolgte, trug diese explosionsartige Nachfragesteigerung dazu bei, das Verweben der Baumwolle von Hand zu einem hoch bezahlten Handwerk zu machen, in dem Hunderttausende britischer Männer beschäftigt waren (darunter viele ehemalige Spinner aus der Zeit vor der Industrialisierung der Spinnereien). Vermutlich beeinflusste diese frühe positive Erfahrung mit der Automatisierung Ricardos anfänglich optimistische Sichtweise.

Doch die Entwicklung großer Maschinen endete nicht bei den Spinnereien. Schon bald kamen in den Baumwollwebereien dampfbetriebene Webstühle zum Einsatz. Vorbei war die Zeit, in der die Mitglieder des Weberhandwerks mit fünf Tagen Heimarbeit in ihren Cottages gutes Geld verdienten. Stattdessen hatten sie nun Mühe, ihre Familien zu ernähren, und schufteten viel länger und unter strenger Disziplin in den Fabriken.

Angesichts der sich in ganz Nordengland ausbreitenden Ängste und Proteste änderte Ricardo seine Meinung. In der dritten, 1821 erschienenen Auflage seines einflussreichen Buches fügte er ein neues Kapitel hinzu: „Über Maschinerie“. Seine dortige Einschätzung trifft den Nagel auf den Kopf: „Wenn die Maschinerie alle Arbeiten leisten könnte, die jetzt die Arbeiter tun, gäbe es keine Nachfrage nach Arbeitern.“ Die gleiche Sorge gilt heute. Die Übernahme bisher von Menschen ausgeführter Aufgaben durch Algorithmen wird für die verdrängten Arbeitnehmer keine gute Nachricht sein, sofern sie nicht andere gut bezahlte Aufgaben finden können.

Von den schwer kämpfenden Handwebern der 1810er und 1820er Jahre fanden nur die wenigsten in den neuen Fabrikwebereien Arbeit, weil für die maschinellen Webstühle kaum Arbeiter gebraucht wurden. Während die Automatisierung der Spinnerei vielen Menschen die Chance eröffnet hatte, als Weber zu arbeiten, erzeugte die Automatisierung der Weberei keine ausgleichende Nachfrage nach Arbeitskräften in anderen Sektoren. Die britische Wirtschaft insgesamt schuf nicht genug andere gut bezahlte Arbeitsplätze – zumindest nicht, bis in den 1830er Jahren der Eisenbahnboom begann. Da sie kaum Alternativen hatten, blieben Hunderte von Handwebern in ihrem Beruf, obwohl die Löhne um mehr als die Hälfte sanken.

Automatisierung favorisiert

Ein weiteres zentrales Problem, mit dem sich Ricardo selbst nicht weiter beschäftigte, war, dass die Arbeiten unter den harten Bedingungen der Fabriken – in der die Arbeiter zu einem kleinen Rädchen in den arbeitgeberkontrollierten „satanischen Mühlen“ der frühen 1800er Jahre wurden – für die Handweber unattraktiv war. Viele frühere Handweber waren unabhängige Geschäftsleute und Unternehmer gewesen, die gesponnene Baumwolle gekauft und dann ihre gewebten Produkte auf dem Markt verkauft hatten. Sie waren offensichtlich nicht begeistert, sich längeren Arbeitszeiten, härterer Disziplin, einem Verlust an Autonomie und in der Regel niedrigeren Löhnen (zumindest im Vergleich zur großen Zeit der Handweberei) zu unterwerfen. In von verschiedenen königlichen Untersuchungskommissionen gesammelten Schilderungen äußerten die Weber verbittert ihre Weigerung, derartige Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, oder beklagten sich, wie schrecklich ihr Leben geworden sei, nachdem sie (aus Mangel an Alternativen) in eine derartige Beschäftigung gezwungen wurden.

Die heutige generative KI hat enormes Potenzial und hat bereits einige beeindruckende Erfolge vorzuweisen, auch in der wissenschaftlichen Forschung. Sie ließe sich durchaus nutzen, um den Arbeitnehmern zu helfen, besser informiert, produktiver, unabhängiger und vielseitiger zu werden. Leider scheint die Technologiebranche andere Einsatzzwecke im Sinn zu haben. Wie wir in „Macht und Fortschritt“ erläutern, favorisiert eine überwältigende Mehrzahl der Großunternehmen, die KI entwickeln und einsetzen, die Automatisierung – den Ersatz von Menschen – gegenüber Maßnahmen zur Steigerung der Produktivität der Arbeitnehmer.

Das bedeutet, dass wir der Gefahr einer exzessiven Automatisierung ausgesetzt sind: Viele Arbeitnehmer werden verdrängt werden, und wer seinen Arbeitsplatz behält, wird zunehmend erniedrigenden Formen der Überwachung und Kontrolle unterworfen werden. Der Grundsatz „Erst automatisieren, dann Fragen stellen“ erfordert die Erfassung enormer Datenmengen am Arbeitsplatz und in allen Bereichen der Gesellschaft – und ermutigt daher zusätzlich dazu. Das wirft die Frage auf, wie viel Privatsphäre uns bleiben wird.

Richtung der Innovation ändern

Eine derartige Zukunft ist nicht unvermeidlich. Die Regulierung der Datenerfassung würde helfen, die Privatsphäre zu schützen, und strengere Regeln am Arbeitsplatz könnten die schlimmsten Aspekte KI-gestützter Überwachung verhindern. Doch wie Ricardo uns erinnern würde, besteht die grundlegendere Aufgabe darin, das Narrativ über die KI insgesamt zu ändern. Die womöglich wichtigste seinem Leben und Werk zu entnehmende Lehre ist, dass Maschinen nicht zwangsläufig gut oder schlecht sind. Ob sie Arbeitsplätze vernichten oder schaffen, hängt davon ab, wie wir sie nutzen und wer diese Entscheidungen trifft. Zu Zeiten Ricardos entschied eine kleine Gruppe von Fabrikbesitzern, und im Mittelpunkt dieser Entscheidungen standen die Automatisierung und das größtmögliche Auspressen der Arbeiter.

Heute scheint eine noch kleinere Gruppe von Technologiebossen den gleichen Weg einzuschlagen. Doch würde es viel bessere Ergebnisse sicherstellen, wenn wir uns auf die Schaffung neuer Chancen, neue Aufgaben für die Menschen und den Respekt für jeden Einzelnen konzentrieren würden. Es ist noch immer möglich, eine arbeitnehmerfreundliche KI zu haben, aber nur, wenn wir es schaffen, die Richtung der Innovation in der Technologiebranche zu ändern und neue Regeln und Institutionen einzuführen.

Wie zu Ricardos Zeiten wäre es naiv, auf die Menschenfreundlichkeit der Wirtschaftslenker und Technologiebosse zu vertrauen. Es bedurfte bedeutender politischer Reformen, um eine echte Demokratie hervorzubringen, Gewerkschaften zu legalisieren und die Richtung des technologischen Fortschritts in Großbritannien während der Industriellen Revolution zu ändern. Vor der gleichen grundlegenden Herausforderung stehen wir heute.


Copyright: Project Syndicate, 2024

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Daron Acemoglu ist Professor für Volkswirtschaft am MIT und Verfasser (gemeinsam mit Simon Johnson) von „Macht und Fortschritt: Unser 1.000-jähriges Ringen um Technologie und Wohlstand“ (Campus, 2023).
Daron Acemoglu ist Professor für Volkswirtschaft am MIT und Verfasser (gemeinsam mit Simon Johnson) von „Macht und Fortschritt: Unser 1.000-jähriges Ringen um Technologie und Wohlstand“ (Campus, 2023).
Simon Johnson ist ehemaliger Chefökonom des Internationalen Währungsfonds. Er ist Professor an der Sloan School of Management des MIT.
Simon Johnson ist ehemaliger Chefökonom des Internationalen Währungsfonds. Er ist Professor an der Sloan School of Management des MIT.