Klangwelten: Russische Kreise, türkischer Psychedelic-Folk und südkalifornische Träume

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Im Herzen der Abstraktion

Russian Circles: Blood Year

Mit „Blood Year“ verfeinern die Könige des instrumentalen Post-Metal weiterhin ihr vielschichtiges, massives Klangbild. Einen Innovationspreis gewinnt das Trio längst nicht mehr, feine Nuancen und starkes Songwriting machen aber auch dieses siebte Opus zu einem der wichtigsten instrumentalen Alben des Jahres.

Eine Band wie Russian Circles riskiert irgendwann, am eigenen Genie zu scheitern. Den musikalischen Stil, den sie zu Beginn ihrer Existenz entwickelt und im Laufe ihrer Karriere mit feinfühligen Entwicklungen – auf „Empros“ wurde der Black-Metal-Einschlag verstärkt, auf „Guidance“ das Gleichgewicht zwischen Mathrock und Metal gefunden – nuanciert haben, wird irgendwann zu Ermüdungserscheinungen führen, der prägende Sound wird zur Formel, der ehemaligen Innovation werden nur noch Detailergänzungen entgegengesetzt. Nicht jeder kann, wie Radiohead, auf „OK Computer“ ein „Kid A“ folgen lassen. Und nicht jedem würde es gut zu Gesicht stehen. Russian Circles vermeiden peinliche Zusammenarbeiten (man denke an Metallica und Lou Reed, an Korn und Skrillex), bleiben sich selbst loyal, auch wenn ihnen diese Loyalität irgendwann zum Verhängnis werden könnte, weil ihre Platten redundant werden könnten.

Und trotzdem: Vergleicht man die Tool- und Math-Einflüsse auf Platten wie „Enter“ und „Station“ mit „Blood Year“, merkt man, dass die schmalen Entwicklungen das Klanggerüst im Laufe der Zeit verschoben haben. Die Abstraktion der Kompositionen ist größer geworden, auch wenn die Platte nach dem akustischen Intro „Hunter Moon“ mit dem vorab veröffentlichten „Arluck“ in den präzisesten und knackigsten Track der Platte mündet. „Arluck“ beginnt mit schnellen Schlagzeugrhythmen, dem Brian Cooks verzerrter Bass mit einem seiner wirkungsvollen Läufe antwortet. Kurz darauf zündet Gitarrist Mike Sullivan ein Feuerwerk an Riffs – auf „Arluck“ verbinden Russian Circles Eingängigkeit mit Tiefgang, ihre Mathrock-Wurzeln mit den Black-Metal-Einschlägen jüngerer Scheiben. Es ist einer ihrer besten Songs in Jahren. Ganz so stark wird „Blood Year“ leider nicht mehr.

„Milano“ und „Kohokia“ setzen mehr auf Atmosphäre als auf Groove, die Stärken der Band – das facettenreiche Schlagzeug und der unheimlich rhythmische Bass – stehen scheinbar weniger im Mittelpunkt, eine Wand an gesättigten Gitarren dominiert und ertränkt erst mal alles. Und doch setzen sich bei „Milano“ die wunderbaren Melodien nach wiederholtem Durchlauf in den Gehörgängen fest und überrascht „Kohokia“ mit einer dieser bahnbrechenden Auflösungen, die Russian Circles von ihren Genre-Kollegen abgrenzen. Die zweite Hälfte fällt vom Songwriting her leicht ab, das sanfte, schöne „Ghost In High“ mündet in „Sinai“, das seine liebevoll aufgebaute Atmosphäre in der Mitte leider einer etwas orientierungslosen Aneinanderreihung an harten Riffs opfert, bevor die Band den Zuhörer mit „Quartered“, einem ihrer härtesten Songs, wirkungsvoll entlässt.
Jeff Schinker


Schüttel deinen Speck!

Altin Gün: Gece

Jacco Gardners Begleitmusiker mit ihrem Workshop „Einführung in die türkische Musik – Teil 2“. Immer noch originell!

Ein paar durchgeknallte Niederländer entdecken ihre Liebe zur traditionellen türkischen Musik und kombinieren den psychedelischen Folk-Rock, den sie bislang an der Seite des Singer-Songwriters Jacco Gardner gespielt haben, mit diesen orientalischen Einflüssen – und es funktioniert! Bassist Jasper Verhulst sammelte seit Längerem Platten mit türkischen Volksliedern und anatolischem Rock der 70er-Jahre und verspürte irgendwann den Drang, noch tiefer in diese Musik einzutauchen und sie auch selbst zu spielen. So schaltete er von Amsterdam aus eine Anzeige in einem Fachmagazin und suchte nach türkischen Mitstreitern für sein Projekt. Prompt wurde er fündig: Sängerin Merve Dasdemir und Keyboarder Erdinç Ecevit, der auch das Spiel auf der Saz, der türkischen Langhalslaute, beherrscht, stießen hinzu und wenig später war die holländisch-englisch-türkische Band Altin Gün („Goldener Tag“) gegründet.

Dieser zusammengewürfelte Haufen Musiker hat seinen Sound auf dem neuen Album definitiv gefunden und man lässt sich bereits nach wenigen Takten nur allzu gerne von diesen exotischen Klängen verführen, auch wenn man keinen blassen Dunst vom Inhalt der Texte hat, die hier vorgetragen werden. Laut Perkussionist Gino Groeneveld ist das auch gar nicht nötig. In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung ließ der Niederländer wissen: „Sorry, aber ich kann kein Türkisch und zur politischen Lage in der Türkei werde ich mich auch nicht äußern. Wir wollen nicht predigen, sondern die Menschen zum Tanzen bringen.“

Das gelingt ihnen definitiv. Wie bei Konzerten der Band kann man sich auch beim Hören ihres Albums den treibenden Beats sowie dem nuancierten Zusammenspiel zwischen Saz, Fuzz-Gitarre und den kitschigen Keyboard-Klängen der 80er-Jahre nur schwerlich entziehen. Die einen werden von wildem Kopfnicken erfasst, andere schütteln die Brust oder lassen die Hüften kreisen. Was würde Roberto Blanco sagen? „Ein bisschen Spaß muss sein!“ Gil Max


Ausnahmsweise ohne E Street Band

Bruce Springsteen: Western Stars

Bruce Springsteen gönnt sich keine Ruhe: 2016 und 2017 tourte er mit der E Street Band über den Globus. Obendrein erschien im September 2016 seine spannende wie unterhaltsame Autobiografie „Born To Run“. Mit dem Erscheinen des Buches absolvierte er eine kurze Solotournee durch die USA, Kanada und Europa. Damit nicht genug trat er zwischen Oktober 2017 und Dezember 2018 im Rahmen der Show „Springsteen On Broadway“ über 230 Mal solo auf. Von den drei digitalen „The Live Series“-Alben, die noch erschienen sind, ganz zu schweigen. Wo er da die Zeit fand, ein Album zu schreiben und aufzunehmen, bleibt sein Geheimnis.

Jedenfalls erschien Mitte Juni „Western Stars“. Auf diesem Album hat er ausnahmsweise nicht die E Street Band dabei. Stattdessen arbeitete er mit Produzent Ron Aniello und über 20 Musikern zusammen: darunter seine Frau Patti Scialfa als Background-Sängerin und der ebenfalls aus New Jersey stammende Musiker und Filmkomponist Jon Brion, der Celesta, Moog und Farfisa spielt.

Inspiriert wurde Springsteen zu den Songs durch südkalifornische Popmusik aus den späten 60er- und frühen 70er-Jahren, die er laut eigener Aussage mit „ausladenden, cineastischen, orchestralen Arrangements“ versehen wollte. Das gelang ihm, hört man sich den Ohrwurm „There Goes My Miracle“ an. An anderer Stelle wurde der Bombast deutlich zurückgefahren.

Im Titelsong steht Springsteens Stimme im Mittelpunkt und wird von Akustik-, Pedal-Steel-Gitarre und Schlagzeug begleitet. Ähnliches gilt für das wunderschöne „Drive Fast (The Stuntman)“. In „Chasin’ Wild Horses“ trifft das ausufernde auf das traditionelle Element – und auch das funktioniert. Regelrecht fröhlich und locker ist das Country-Pop-Stück „Sleepy Joe’s Cafe“ ausgefallen, womit „Western Stars“ ein abwechslungsreiches Album ohne Ausfälle geworden ist. Kai Florian Becker