LuxFilmFestDie Mädchen, die verschwinden: „Prayers for the Stolen“ von Tatiana Huezo

LuxFilmFest / Die Mädchen, die verschwinden: „Prayers for the Stolen“ von Tatiana Huezo
In diesem Augenblick scheint alles gut: María, Ana und Paula drücken gemeinsam die Schulbank

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Der Wettbewerbsfilm „Prayers for the Stolen“ erzählt von der Freundschaft dreier Mädchen, deren Leben von einem Drogenkartell ständig bedroht wird.

Um das abgelegene Bergdorf, in dem Ana (Ana Cristina Ordóñez GonzálezMarya Membreño), Paula (Camila GaalAlejandra Camacho) und María (Blanca Itzel PérezGiselle Barrera Sánchez) aufwachsen, haben Drogenkartelle eine eiserne Schlinge gezogen. Sie terrorisieren die dort lebenden Menschen, liefern sich auf offener Straße mit der manchmal anrückenden Armee Schießereien und verschleppen immer wieder Mädchen und junge Frauen, da sie auch Menschenhandel betreiben. „Weißt du, was sie mit den Mädchen machen?“, fragt Mutter Rita die jugendliche Ana einmal, als die beiden in einen Streit geraten. Keine von beiden spricht aus, was beide ganz genau wissen: Die entführten Mädchen landen irgendwo, wo sie zur Prostitution gezwungen werden, und niemand kann etwas dagegen tun. Die Mütter (oft faktisch alleinerziehend, weil die Männer anderswo arbeiten) bleiben alleine und traumatisiert zurück. Der englische Titel des Films „Prayers for the Stolen“, der im Original „Noche de Fuego“ heißt, verweist auf diese grauenvolle Situation – und vor allem auf die unerträgliche Ohnmacht der Frauen, denen man ihre Kinder entrissen hat und die so, was sehr zynisch wirken mag, nur noch für die Entführten beten können.

Aus mehreren Gründen ist „Prayers for the Stolen“ ein Film, für den sich ein Kinobesuch lohnt. Groß ist das Leid, das er zeigt, und zwar so zeigt, dass man nicht gleichgültig bleiben kann gegenüber dem Schicksal von Ana, Paula und María. Dabei verzichtet die salvadorianisch-mexikanische Regisseurin Tatiana Huezo, die mit dem Film einen Roman von Jennifer Clement adaptiert hat, aber auf schockierende Szenen oder Gewaltexzesse vor der Kamera: Bis auf eine weitere Ausnahme ist das einzige Blut, das man im Film sieht, ein schmales Rinnsal, das aus Anas Nase fließt, als sie erfährt, dass die Bandenmitglieder ihre Freundin María mitgenommen haben. Zu sehr im Schock, als dass sie weinen könnte, reagiert ihr Körper mit dem Absondern einer anderen Körperflüssigkeit, die symbolisch für die ganze Gewalt steht, die die Dorfgemeinschaft und vor allem die Frauen fortwährend ertragen müssen; aber sie repräsentiert auch das Frau-Werden und Frau-Sein, das hier in eins fällt mit infamer Ausbeutung. Denn nur noch einmal wird Blut gezeigt, nämlich, als Ana zum ersten Mal ihre Tage bekommt und so unwillentlich Hose und Unterhose befleckt.

Spannungen zwischen Mutter und Tochter

Beim Sehen von „Prayers of the Stolen“ gewinnt man schnell den Eindruck, dass dem fertigen Film viele Überlegungen hinsichtlich dessen, was genau gezeigt werden sollte und was nicht, vorausgingen. Das Ergebnis ist ein Werk, das den Fokus nicht auf die Aggressoren lenkt – sie werden kein einziges Mal in Nahaufnahme oder als Individuen gezeigt –, sondern auf das Leben der von ihnen Unterdrückten. Dem haftet natürlich ein emanzipatorisches Moment an, doch macht „Prayers of the Stolen“ gleichzeitig klar, dass auf den dargestellten Existenzen ein ständiger Schatten der Bedrohung liegt und der zerstörerische Einfluss der Drogenkartelle alles durchdringt: den Alltag der Dorfbewohner wie auch ihre Beziehungen zueinander. So ist das Verhältnis zwischen Ana und ihrer Mutter schwer belastet durch die ständige Gefahr, der das Mädchen ausgesetzt ist, und die daraus erwachsende Furcht ihrer Mutter. Diese findet ihren Niederschlag in einer strengen wie scheinbar distanzierten Haltung, die Rita (Mayra Batalla) gegenüber ihrer Tochter an den Tag legt. Die Missstimmung und das Unbehagen, die beide im Griff halten, entladen sich dann nur manchmal in Wutausbrüchen, die so schnell vorbeigehen wie ein Regenschauer: Die Kraft zu langwierigen Streitigkeiten fehlt.

Ebenso fehlen auch die Worte, das Grauen zu benennen – hier erinnert der Film an den Roman „Der Sommer der Schmetterlinge“ der brasilianischen Autorin Adriana Lisboa, der ebenfalls um die Thematik des Nicht-sagen-Könnens kreist. Wie zwischen Mutter und Tochter nie direkt ausgesprochen wird, was eigentlich im Dorf passiert, erhält man als Zuschauer auch nur indirekt oder nacheinander die essenziellen Informationen, die man benötigt, um sich einen Reim auf all das zu machen, was man anfangs sieht und nicht genau versteht. Ein Beispiel: In der ersten Szene graben eine Frau und ein Mädchen ein Loch, in das Letzteres sich dann hineinlegen muss, damit sie sich vergewissern können, dass sie ganz hineinpasst. Später wird dann klar, dass dieses Loch Anas Versteck ist, in das sie flüchten muss, wenn die schwer bewaffneten Mitglieder der Drogenbande vor dem Haus auftauchen, um sie mitzunehmen.

Aus der Sicht der Kinder

Dass Verschiedenes im Vagen gelassen oder nie artikuliert wird, entspricht der allgemeinen Taktik des Films, eine Geschichte entlang ihrer Bruchkanten zu erzählen. Die Wahl, wichtige Zusammenhänge nur anzudeuten oder stückchenweise preiszugeben, passt zu seinem erzählerischen Schwerpunkt, der auf dem Leben von Ana und ihren zwei Freundinnen liegt. Sie können zunächst vieles nur ahnen, bis sie dann später, wenn sie größer sind, ganz erfassen, was wirklich vor sich geht. Dadurch, dass der Film so den Zuschauer zwingt, die Perspektive der Kinder einzunehmen, erscheinen die Gräueltaten der Drogenkartelle noch unmenschlicher.

Über lange Strecken wird – und das ist das Schöne am Film – aber auch die unerschütterliche und sich mit den Mädchen mit entwickelnde Freundschaft in den Blick genommen. Ana und Paula spenden einander Trost, als ihre Mütter ihnen die Haare schneiden lassen, damit sie wie Jungen aussehen und dadurch, so die Hoffnung, für die Menschenhändler weniger von Interesse sind. María und Ana waschen Paulas Körper ab, als diese in einen Giftregen gerät, versprüht von einem Helikopter. Ana besucht María im Krankenzimmer, nachdem sich diese ihre Hasenscharte operieren ließ. Das sind alles feine Lichtstrahlen, die die Erzählung von „Prayer of the Stolen“ durchdringen, trotz der Schwere seines Sujets. Eben sie machen deutlich, wie monströs das Problem ist, das hier zwar in fiktionalisierter Form auftritt, seine Wurzeln jedoch in der Wirklichkeit hat (eine kurze Google-Recherche genügt, um zu sehen, welche Macht Drogenkartelle in Mexiko besitzen und wie gewalttätig sie auch gegenüber Kindern und Jugendlichen sind). Nach dem Sehen des Films würde man sich wünschen, dass der Titel „Prayers for the Stolen“ weniger akkurat wäre – was den Film selbst wie auch die Realität dessen, was er abbildet, angeht.