ArgentinienDen Peronisten droht eine historische Niederlage

Argentinien / Den Peronisten droht eine historische Niederlage
Sie wollen das Rad der Zeit nicht zurückdrehen: Frauen demonstrieren in Buenos Aires für den Erhalt des Abtreibungsrechts, das der Präsidentschaftskandidat Javier Milei wieder abschaffen möchte Foto: Emiliano Lasalva/AFP

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Vor den Präsidentschaftswahlen am Sonntag befindet sich das krisengeplagte Argentinien einmal mehr an einem Tiefpunkt. Auch der Peronismus, die das Land seit Jahrzehnten prägende politische Kraft, steckt in einer tiefen Krise. Ein persönlicher Rück- und Ausblick.

Als ich vor 30 Jahren zum ersten Mal nach Buenos Aires kam, fragte ich nach der längsten Straße der Stadt. Das sei die Avenida Rivadavia, sagte mir eine Punkerin im Zentrum der argentinischen Hauptstadt und begleitete mich zu der 35 Kilometer langen Straße. Ich verabschiedete mich von ihr und ging der Straße nach in Richtung Westen weiter. Einen Teil der Strecke legte ich zu Fuß zurück, den längsten Weg jedoch mit dem Bus – bis ich in Merlo ankam, dem Reich von Raúl Alfredo Othacehé.

Der Politiker war 1991 zum „Intendente“ gewählt worden, zum Bürgermeister der heute mehr als eine halbe Million Einwohner zählenden Stadt im riesigen Ballungsraum von Buenos Aires. Der Sprössling einer Eisenbahnerfamilie, wegen seiner baskischen Vorfahren „el Vasco“ genannt, gehört seit seiner Jugend dem peronistischen Partido Justicialista an, der Gerechtigkeitspartei. Dieser sollte ich immer wieder begegnen. Wo ich hinkam, traf ich Anhänger der politischen Bewegung, die zu Argentinien gehört wie Fußball, Mate oder Tango – oder ihre Gegner, die kein gutes Haar an ihr lassen.

Barone der Vorstädte

Die Peronisten herrschen bis heute vor allem in den argentinischen Provinzen und im Umland der Hauptstadt, das aus zahllosen Vorstädten wie Avellaneda, Lanús, Morón, Florencio Varela, Tres de Febrero, Moreno, Quilmes, Ezeiza und San Miguel besteht. In der argentinischen Politikwissenschaft werden deren Bürgermeister als „Barones del Conurbano“ bezeichnet. Wie viele andere peronistische Vorstadtbarone wurde Othacehé damals Unterstützer des mächtigen Gouverneurs der Provinz von Buenos Aires und ehemaligen Vizepräsidenten Eduardo Duhalde.

Es war die Ära des peronistischen Staatspräsidenten Carlos Saúl Menem (1989-1999), eines schillernden Politikers mit markanten Koteletten im Stile eines Caudillos des 19. Jahrhunderts und Sprössling einer syrischen Einwandererfamilie, der zur Überraschung vieler mit einer für den Peronismus untypischen neoliberalen Politik aufwartete, die aus der Privatisierung von staatlichen Unternehmen und der 1:1-Bindung des argentinischen Pesos an den US-Dollar bestand. In dem südamerikanischen Land war nach Jahren der Knappheit und der Hyperinflation alles an Importwaren zu haben, aber immer weniger Menschen konnten es sich leisten. Die soziale Schere hatte sich in dem einst reichen südamerikanischen Land, das auf seine Mittelschicht stolz war, weiter geöffnet. Auf der einen Seite zeigten sich Menem, die Vorstadtbarone und Provinzfürsten volkstümlich, auf der anderen lebten sie in Saus und Braus. Die Epoche von „Pizza con Champan“, nach einem Buchtitel der Journalistin und Soziologin Sylvina Walger, mündete 2001 im Staatsbankrott.

Nachdem ich die ersten Wochen im Zentrum der Hauptstadt einquartiert war, fand ich eine Bleibe bei einer befreundeten Familie in der nördlichen Vorstadt San Isidro, wo ich Zeuge etlicher Inaugurationen von sozialen Einrichtungen wurde, bei denen der „Intendente“, ausgestattet mit blau-weiß-blauer Scherpe und Schere, ein Band durchschneiden durfte. Nach außen hin gefielen sich die Vorstadtbarone als karitative Wohltäter, auf der anderen Seite pflegten sie dunkle Machenschaften. Die Liste der Vorwürfe gegenüber Othacehé war lang: Sie reichte von Korruption und Nepotismus bis hin zu Nötigung, Anstiftung zur Körperverletzung, Entführung oder gar Mord. Am „Intendente“ von Merlo perlten alle diese Anschuldigungen ab. Othacehé blieb bis zu seiner Abwahl im Jahr 2015 fast ein Vierteljahrhundert Bürgermeister.

Insgesamt haben die Peronisten seit 1989 nur mit zweit Unterbrechungen – von 1999 bis 2001 und 2015 bis 2019 – Argentinien regiert. Die Geschichte einer der ältesten und erfolgreichsten populistischen Bewegungen der Welt begann viel früher: Als am 4. Juni 1943 eine Gruppe von Offizieren gegen das damals herrschende Militärregime putschte, war ein nachrangiger Offizier namens Juan Domingo Perón an dem Staatsstreich beteiligt. Der 1895 in dem Dorf Lobos in der Provinz Buenos Aires geborene Sohn eines Viehzüchters wurde Staatssekretär für Arbeit und soziale Sicherung, später Kriegsminister und Vizepräsident, war in den 30er Jahren Militärattaché und als Beobachter unter anderem ins faschistische Italien geschickt worden.  Spätestens damals begann er Benito Mussolini zu bewundern. In jener Zeit hatte der Nationalismus in Argentinien stark zugenommen, wie der Historiker Luís Alberto Romero konstatiert. Zugleich wurde ein „dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus propagiert. Viele Argentinier lehnten die Neutralität zwischen Achsenmächten und Alliierten, die das Militärregime bis fast zum Ende des Zweiten Weltkrieges bewahrte, zwar ab. Die Regierung erklärte jedoch erst Ende März 1945 unter US-amerikanischem Druck dem Deutschen Reich und Japan den Krieg.

Eva und Juan Perón
Eva und Juan Perón

Staatssekretär Perón war es gelungen, die armen Bevölkerungsschichten für sich zu gewinnen. Schon in den 30er Jahren war von den Regierungen in Argentinien eine importsubstituierende Industrialisierung betrieben worden. Zu dem städtischen Proletariat war eine neue Schicht hinzugekommen: Landbewohner, die in den Großraum Buenos Aires gezogen waren, um dort in den Fabriken zu arbeiten. In meiner Zeit in Argentinien in den 90er Jahren lernte ich den Philosophen und erwiesenen Peronismus-Experten José Pablo Feinmann kennen, der ein Buch über die peronistische Bewegung geschrieben hat. Er erklärte mir, wie es möglich gewesen war, dass Peróns Frau Eva Duarte zur wichtigsten Bezugsperson der „Descamisados“ (Hemdlosen), „dieser neuen Arbeiterklasse, die bisher keine Gewerkschaftserfahrung hatte“, wurde. Feinmann erzählte mir, wie es Perón gelungen war, gegen den Widerstand von Konservativen und Unternehmen, aber auch innerhalb der Militärregierung, eine Reihe von Arbeits- und Sozialreformen durchzusetzen. Er verpflichtete die Arbeitgeber, neben höheren Löhnen auch Abfindungen, Urlaubs- und Weihnachtsgeld zu zahlen und führte Kollektivvertragsverhandlungen ein. Er drängte den Einfluss unter anderem der kommunistischen Gewerkschaften zurück und knüpfte ein Netzwerk loyaler Syndikate. Bis es Peróns Kabinettskollegen schließlich zu viel wurde: Am 12. Oktober 1945 wurde er festgenommen und auf die Gefängnisinsel Martín García gebracht, angeblich um ihn zu schützen.

„Tag der Treue“

Anscheinend hatte kaum jemand mit „Evita“ Perón gerechnet: Sie mobilisierte am 17. Oktober 1945 Hunderttausende „Descamisados“ aus dem ganzen Land. Sie strömten aus allen Richtungen ins Zentrum der Hauptstadt, versammelten sich auf der Plaza de Mayo vor dem Regierungspalast, der Casa Rosada, und forderten Freilassung des „Generals“ – bis dieser auf den Balkon trat. Die Großdemonstration wurde zum Schlüsselereignis. Noch heute feiern die Peronisten den 17. Oktober als „Día de la Lealtad“, als Tag der Treue, und schmettern dabei, wie bei anderen Versammlungen und Kundgebungen, „La Marcha Peronista“, die Hymne der Bewegung. Im Haus der Großeltern einer Freundin in einem Vorort von Buenos Aires hingen noch in den 90er Jahren jeweils ein Foto von Perón und seiner Frau. Und am 17. Oktober wurden sie von Kerzenschein beleuchtet. Sie sprachen in großer Ehrfurcht von ihr.

Kurz nach Peróns Freilassung wurde ein Termin für freie Wahlen festgelegt, die der neue Volkstribun am 24. Februar 1946 mit knapp 53 Prozent der Stimmen gewann. Perón modernisierte und reformierte Argentinien und baute einen Wohlfahrtsstaat auf. Zugleich regierte er das Land autoritär. Doch war seine Herrschaft keine Diktatur, erklärte mir José Pablo Feinmann. Perón wollte, indem er die unteren sozialen Schichten ins politische Leben zu integrieren versuchte, sie dem Einfluss der Kommunisten entziehen und mit den Unternehmen versöhnen. Sein als dritter Weg propagierter Weg des „justicialismo“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus blieb diffus. Er schuf mächtige Gewerkschaften, die sich in der Confederación General del Trabajo (CGT) zusammenschlossen. Zu seinen Anhängern gehörten außerdem einige aufstrebende Industrielle und das städtische Kleinbürgertum, aber auch Teile der Armee und der Kirche. Die Peronisten wurden eine Massenbewegung, mit dem Partido Justicialista (PJ) als eigene Partei. Zudem entstanden eine peronistische Frauenbewegung und verschiedene Jugendbewegungen.

Der italienische Historiker Loris Zanatta, spezialisiert auf Populismus und die Geschichte Lateinamerikas, sagte einmal in einem Fernsehinterview: „Der Peronismus hatte, wie jede populistische Bewegung, den Anspruch, alles zu sein. Nicht ein Teil des Ganzen, sondern das Ganze. Rechts und links, Arbeiter und Unternehmer.“ Zanatta nennt den Peronismus „einen Franquismus von links“. Und der argentinische Historiker Luís Alberto Romero meint: „Perón war ideologisch nicht festgelegt. An Mussolini bewunderte er vor allem den politischen Stil. Aus ideologischer Sicht war Perón ein Eklektiker, ein bisschen Sozialismus, ein bisschen katholische Soziallehre, ein bisschen Faschismus.“ Der Peronismus habe keine rassistische oder antisemitische Ideologie vertreten. „War Perón ein Nazi?“ fragte die größte argentinische Tageszeitung Clarín. Für die meisten Historiker in Argentinien war er keiner. Einer der berühmtesten, Félix Luna, der als Politiker der sozialdemokratischen Partei Unión Cívica Radical kaum des Peronismus verdächtig ist, sagte: „Perón hat Ausbrüche von Antisemitismus, die es in den Anfangsjahren des Peronismus gab, sofort unterbunden; er hatte ausgezeichnete Beziehungen zur jüdischen Gemeinde und beeilte sich, den Staat Israel anzuerkennen.“ Und Roberto Alemann, Herausgeber des liberalen Argentinisches Tageblatt, einer deutschsprachigen Auslandszeitung, bestätigte: „Einen systematischen Antisemitismus wie unter Hitler hat es unter Perón nie gegeben.“ Und der große Schriftsteller Ernesto Sábato meinte: „Er hat Juden und Araber, Rabbiner und Antisemiten mit demselben Lächeln empfangen.“

Die Spaltung der Bewegung

In Peróns zweiter Amtszeit ab Juni 1952 ging es in Argentinien wirtschaftlich bergab und vertiefte sich die gesellschaftliche Kluft. Zugleich verschärfte sich der Konflikt zwischen Peronisten und Nicht-Peronisten. Als am 26. Juli 1952 Evita an Gebärmutterhalskrebs starb, hatte Perón seine wichtigste Stütze und die Peronisten ihre Ikone verloren. Im September 1955 wurde der Staatschef durch einen Militärputsch gestürzt. Der General ging ins Exil nach Spanien, und in seiner Heimat wurde der Peronismus verboten. Doch die Bewegung agierte im Untergrund weiter. Sie wurde dabei immer heterogener und teilte sich in unterschiedliche Strömungen, von denen jede beanspruchte, den wahren Peronismus zu repräsentieren. Als Perón am 20. Juni 1973 nach Argentinien zurückkehrte, kam es am Flughafen Ezeiza, wo sich mehrere Millionen Menschen versammelt hatten, zu blutigen Zusammenstößen, als Angehörige des rechten Flügels aus dem Hinterhalt auf ihre Gegner vom linken Flügel, darunter die Stadtguerilla Movimiento Peronista Montonero, schossen. Dabei starben mindestens 13 Menschen, 365 wurden verletzt. Horacio Verbitsky, einer der herausragenden Journalisten des Landes, erklärte in dem 1985 erschienenen Buch „Ezeiza“ die Hintergründe.

Nach Peróns Tod am 1. Juli 1974 übernahm seine Witwe Isabel Perón das Präsidentenamt. Es folgte eine bürgerkriegsähnliche Zeit, die von Kämpfen geprägt war – bis das Militär im März 1976 einmal mehr putschte. Es begann eine der repressivsten Militärdiktaturen der Geschichte Südamerikas. Menschenrechtsgruppen sprachen später von 30.000 „Verschwundenen“. Nach dem Verbot der peronistischen Organisationen blieben diese erneut im Untergrund aktiv. Nach der Rückkehr zur Demokratie 1983 waren die Peronisten siegessicher, erlitten jedoch eine dramatische Wahlniederlage. In der Opposition erstarkte der sogenannte Neo-Peronismus um die Reformer wie Menem, Antonio Cafiero und Carlos Grosso, die sich an der politischen Mitte orientierten. Der 1989 zum Präsidenten gewählte Menem begann jedoch zügig, Staatsunternehmen zu privatisieren und soziale Leistungen zu kürzen.

Ein wichtiges Merkmal des Peronismus bilden bis heute die außerordentlich starken Basisorganisationen und die in der CGT miteinander verbundenen Gewerkschaften. Der Historiker Zanatta betont den Pragmatismus und die Anpassungsfähigkeit des Peronismus, der sich immer wieder erneuerte. So sehen sich die unterschiedlichsten Politiker in der peronistischen Tradition: etwa Menem, der einen neoliberalen Kurs verfolgte und sich weitgehend an die Vorgaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank hielt, oder der Linksperonist Néstor Kirchner, der von 2003 bis 2007 regierte, und seine Witwe und Nachfolgerin Cristina Fernández de Kirchner (2007-2015). Die Politologin Carolina Barry stellt fest: „Der Peronismus strebt immer dorthin, wo die Macht winkt.“ Einen Teil der heutigen Ausprägung des Peronismus repräsentiert die 2003 unter Präsident Kirchner gegründete Wahlallianz Frente para la Victoria. Die Strömung des linken „Kirchnerismo“ ist darin die stärkste Kraft. Nach der verlorenen Präsidentschaftswahl 2015 schlossen sich mehrere Unterstützer dem Frente de Todos an, die zurzeit die einflussreichste peronistische Strömung ist und mit Alberto Ángel Fernández den aktuellen Präsidenten stellt, Vizepräsidentin ist Cristina Kirchner.

 

Kann er den Peronismus retten? Präsidentschaftskandidat und Minister Sergio Massa
Kann er den Peronismus retten? Präsidentschaftskandidat und Minister Sergio Massa Foto: Tomas Cuesta/AFP

Für die an diesem Sonntag stattfindenden Parlaments- (ungefähr die Hälfte der Abgeordneten und ein Drittel der Senatoren) und Präsidentschaftswahlen hat sich das Bündnis Unión por la Patria gebildet, als dessen Kandidat sich in den „Primarias Abiertas Simultáneas y Obligatorias“ (PASO) im August Sergio Massa durchsetzte. Diese für alle Wahlberechtigten verpflichtenden offenen Vorwahlen bestimmten die Kandidaten der Parteien und Bündnisse und brachten zur Überraschung aller Experten den selbst ernannten Anarchokapitalisten Javier Milei und dessen Partei La Libertad Avanza als Sieger hervor, gefolgt vom liberal-konservativen Oppositionsbündnis Juntos por el Cambio und der Unión por la Patria. In den Umfragen führte zuletzt Milei, gefolgt von Massa, Wirtschafts- und Landwirtschaftsminister, der ihm höchstwahrscheinlich in die Stichwahl am 19. November folgt, und Patricia Bullrich, frühere Innenministerin unter Präsident Mauricio Macri (2015-2019) von Juntos por el Cambio.

Wahlkampf mit Kettensäge

Milei wettert gegen die „parasitäre politische Klasse“ und vor allem gegen den „Kirchnerismus“ unter Amtsinhaber Alberto Fernández. Der schrille Systemsprenger, der bei seinen Auftritten in letzter Zeit mit einer Kettensäge auftrat, ordert den Bruch mit dem etablierten politischen System. Er kündigte an, die Zahl der Ministerien von 18 auf acht zu reduzieren, die Staatsunternehmen und Bildungs- und Gesundheitssysteme zu privatisieren und die Wirtschaft zu dollarisieren, um die Inflation von mehr als 130 Prozent zu bekämpfen. Er spricht sich für den freien Verkauf von Waffen zur Selbstverteidigung aus, für die Legalisierung des Organhandels und gegen die Abtreibung. Viele vermuten ein Ende der Ära der Familie Kirchner als prägende Kraft des Peronismus. Für Letzteren ist das Vorwahlergebnis das schlechteste in seiner Geschichte. Auch in der patagonischen Provinz Santa Cruz mussten die Kirchners bereits eine Niederlage hinnehmen: Bei den Gouverneurswahlen erlitt dort Gouverneurin Alicia Kirchner eine Schlappe. Vor allem drohen die Peronisten-Hochburgen im Ballungsraum von Buenos Aires verloren zu gehen. Dort erzielte Milei beachtliche Ergebnisse, während die Hauptstadt von Macris Juntos por el Cambio mit 55,92 Prozent dominiert wird.

Doch wie soll das gehen, wenn Milei die öffentlichen Ausgaben um mindestens 15 Prozent senken will und die Subventionen für Strom und Gas streichen will? Das Land hat eine Armutsrate von 40 Prozent und erlitt nach der extremen Dürre im letzten Sommer wegen der Ernteausfälle auch noch einen Rückgang der Deviseneinnahmen. Aus dem Auf und Ab der Krisenzyklen ist eine Dauerkrise geworden. Zudem bremsen die hohen Schulden die Entwicklung des Landes.

Außerdem wird sich die starke argentinische Zivilgesellschaft zur Wehr setzen. Die ständigen Relativierungen der Verbrechen während der Militärdiktatur durch Mileis Vize-Kandidatin Victoria Villaruel, die aus einer Familie von Militärs stammt, deren Vater am schmutzigen Krieg des Regimes teilgenommen hatte und die Kontakte zur spanischen rechtsextremen Partei Vox pflegt, werden Menschenrechtsorganisationen wie die Madres oder Abuelas de la Plaza de Mayo nicht hinnehmen. Néstor und Cristina Kirchner förderten einst die Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen der Militärdiktatur. Unter ihnen wurden die Amnestien, welche die Generäle und ihre Handlanger genossen, wieder aufgehoben. 1.192 Schergen des Militärregimes wurden verurteilt, etwa 20 Prozesse sind noch im Gang. Dieses Rad der Zeit darf nicht zurückgedreht werden, sagen sich viele Argentinier.

Hat der Peronismus von seiner Strahlkraft verloren? Früher hieß es, dass ein überzeugter Peronist auch ein Pferd zum Präsidenten wählen würde, wenn das Pferd Peronist sei und die Partei das befiehlt. Der mittlerweile verstorbene José Pablo Feinmann machte sich über die Europäer lustig, die den Peronismus nicht verstanden. Die Argentinier seien nicht zu verstehen, meinte Feinmann. Wie einst Perón und seine Frau Evita widersprüchlich waren, so ist es auch der Peronismus mit seinen ständigen Kurswechseln. „Organisch“ wurde zu einem Lieblingswort der Peronisten. Alles habe in ihm Platz, heißt es über den Peronismus. Er war die meiste Zeit pragmatisch. Wandelbarkeit war sein Programm, Pathos, Patriotismus und Militanz sind seine Merkmale. Und manchmal kommen auch die peronistischen Figuren von einst zurück: Raúl Othacehé etwa will wieder Bürgermeister werden. Präsidentschaftskandidat Massa sagt über seinen Parteifreund, alles was über ihn gesagt und geschrieben wurde, sei nur ein „Mythos“. Selbst der heutige Papst, der Argentinier Franziskus II., soll einmal von der Mafia von Merlo gesprochen haben. Und ein Film ist über den früheren Bürgermeister von Merlo und seine Machenschaften gedreht worden. Er heißt „Los Bastardos“.

Javier Milei (mit Motorsäge) und seine Anhänger
Javier Milei (mit Motorsäge) und seine Anhänger Foto: Luis Robayo/AFP
HeWhoCannotBeNamed
22. Oktober 2023 - 15.41

Sehr informativer Artikel jenseits der binären "Ist-Milei-rechtsextrem-oder-doch-nicht?"-Rhetorik. Ob es den Argentiniern gelingen wird, Feuer mit Feuer zu bekämpfen, ist jedoch fraglich...