Streaming EyesEmpfehlungen der Redaktion: Das läuft in Netz

Streaming Eyes / Empfehlungen der Redaktion: Das läuft in Netz
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Wir helfen Ihnen durch den Streaming-Dschungel und teilen regelmäßig Empfehlungen zu Spiel- und Dokumentarfilmen im Netz mit Ihnen. Dieses Mal im Programm: Mütter, Mode und Zucker.

Wenn sich Psychologie und Psychiatrie nicht einig sind

„Le ravissement“ von Iris Kaltenbäck 
„Le ravissement“ von Iris Kaltenbäck  Quelle: imdb.com

Lydia ist von Beruf Hebamme, ist tagtäglich von Neugeborenen umgeben und hilft mit routinierten Griffen und einer ruhigen Art und Weise Frauen, diese zur Welt zu bringen. Die geregelte Welt der Mittdreißigerin gerät jedoch eines Tages aus den Fugen. Wenige Minuten, ehe sie sich mit einer Geburtstagstorte aus der Haustür in Richtung Überraschungsfeier für ihre beste Freundin Salomé begibt, gesteht ihr langjähriger Freund, mit einer anderen Frau geschlafen zu haben. Später, während der Party, erfährt Lydia dann noch von Salomé, dass sie ein Kind erwartet. Die sowieso schon sehr introvertierte Frau zieht sich nach ihrer Trennung noch mehr zurück, gleichzeitig versucht sie aber, die Schwangerschaft ihrer Freundin zu begleiten und für sie da zu sein. Während diesen Monaten lernt sie einen Mann kennen, aber nach der Geburt der kleinen Emée verwickelt sich Lydias unscheinbare Existenz mit einer Lüge in eine Spirale, die das Leben aller maßgeblich zu verändern droht.

Le ravissement der einen ist das Leid der anderen. Die Off-Stimme von Milos, dem neuen Mann in Lydias Leben, gibt im ersten Akt des Films zu verstehen, dass sie der Überzeugung ist, dass die zwei Frauen mit einem unsichtbaren Schlauch miteinander verbunden seien, als ob sie sich eine einzige Dosis Glück teilen würden. Richtiges Glück scheint in Iris Kaltenbäcks Debütfilm rar gesät zu sein. Ihre Lydia-Figur bewegt sich durch das Paris-Bild der Filmemacherin und personifiziert die Einsamkeit von Großstadtmenschen im urbanen Raum. Hinter dieser Ebene – die keineswegs von der Hand zu weisen ist – verhandelt Iris Kaltenbäcks Film das Mutterschafts-Thema so differenziert wie kaum ein anderer Streifen. Alleine mit ihrer Sensibilität, die Vorgehensweisen ihrer Hauptfigur zu keinem Moment zu verurteilen, verhindert sie bei der Filminterpretation den einfachen Weg hin zur Hysterie.

Ohne zu viel zu verraten, ist sich am Ende des Films nicht einmal Psychologie und Psychiatrie einig, was Lydia betrifft. Wieso sollte die Regisseurin dann Antworten liefern können? Ihr Film beweist einmal mehr, dass Filmrollen bestenfalls Fragen aufwerfen statt sie zu beantworten. Mit Hafsia Herzi in der Rolle von Lydia erhält die Figur eine zusätzliche Dimension, die das Publikum schwer durchdringen kann und die es mit komplexen Themen konfrontiert. Alexis Manenti, bisweilen bekannt aus den sehr männlichen Filmen von Ladj Ly und Romain Gavras, kann Kaltenbäck eine ganz neue Seite abgewinnen. „Le ravissement“ ist auf jeden Fall ein starkes, erfrischendes Stück französischen Kinos von einer aussage- und ausdruckssicheren neuen Filmemacherin, deren Debütfilm man auf jeden Fall nachholen sollte.

Auf sooner.lu und Tëlee vun der Post


Das Sein und Nichtsein eines möglichen Antisemiten

„High & Low – John Galliano“ von Kevin Macdonald
„High & Low – John Galliano“ von Kevin Macdonald Quelle: imdb.com

Die Streamingdienste überlaufen die letzten Wochen und Monate mit Serien über Modedesigner. Bei Disney+ ist die Miniserie „Cristóbal Balenciaga“ zu sehen und „The New Look“ hat bei AppleTV+ die Anfänge Christian Diors als Mittelpunkt – um nur einige zu nennen. Mit „High & Low – John Galliano“ zeichnet der neue Dokumentarfilm von Kevin Macdonald das Porträt des englischen Stardesigners, der Ende 2010 mit antisemitischen Äußerungen seine eigene Karriere zerstörte.

Die neue Arbeit des schottischen Filmemachers – seine Dokumentarfilme, wie z.B. „Whitney“, „One Day in September“ oder „Touching the Void“, waren seit jeher interessanter als seine Spielfilme – beginnt mit einer Seite Gallianos, die selbst Modemuffel bekannt sein dürfte: Die Bilder des sturzbesoffenen und abgewrackten Designers in Paris sind auch fast 15 Jahre später schwer zu ertragen. Man nimmt es Macdonald fast übel, dass er diese Bilder im letzten Drittel des Films noch einmal zeigt, nachdem er das Leben Gallianos im Zeichen und Auftrag von Fashion Revue passieren ließ – mit John Galliano selbst vor der Kamera sowie vielen seiner Wegbegleiter:innen wie Kate Moss oder Anna Wintour. Macdonald zeichnet Galliano ganz subtil als Klassenüberläufer, der irgendwann bei Dior Opfer seiner verdrängten Familientraumata und der Erwartungen an seine Person wird – Bernard Arnault oder Monsieur Arnault, wie ihn Galliano auch heute noch nennt, schwebt dabei über allem – und an den daraus resultierenden Suchterkrankungen zerbricht.

Dabei ist Gallianos Herangehensweise an den kreativen Prozess zu Beginn ganz spannend und die Umwälzung, die er von unten aus in der Haute Couture einfädelt, ebenfalls. Diskussionsthema bleiben am Ende die verbalen Entgleisungen und der Wiedergutmachungsprozess der Hauptfigur. Dabei kommt man nicht umher, daran zu denken, dass Galliano den Film exklusiv für diese Zwecke ausnutzen will, während Macdonald konträre Motive zu haben scheint. Nichtsdestotrotz ist „High & Low – John Galliano“ ein zum Teil berauschendes Werk, welches mit einem großen Ego im Zentrum auftritt. Und wenn dieses Ego am Ende nach langen Jahren in die Dior-Archive eingeladen wird und einen Blick auf seine Kreationen werfen darf, dann ist das ein überaus emotionaler Moment. Für Galliano und den Zuschauer.

Auf Mubi


Das Ding mit dem Zuckerschock

„Unfrosted“ von Jerry Seinfeld
„Unfrosted“ von Jerry Seinfeld Quelle: imdb.com

Als am letzten Freitag Jerry Seinfelds „Unfrosted“, sein Film über die Entstehungsgeschichte der Pop Tarts, bei Netflix Premiere feierte, folgten sofort brutale Verrisse seitens der amerikanischen Kritiker:innen. Für diesen Film konnten sowieso nur zwei mögliche Szenarien eintreten: entweder würde die Persiflage in den Himmel gelobt oder in Grund und Boden gestampft werden. Letztere sollte es sein. Woher diese Wut auf Seinfeld, seinen Humor und seinen Film jetzt kommt, bleibt aber ein Rätsel.

Pop Tarts sind in kontinentaleuropäischen Breitengraden kein Thema. Außer vielleicht in amerikanischen Shops, in denen man die farbenfrohen Holzspäne, die in Amerika als Frühstücksnahrung angeboten werden, zu kaufen bekommt. Worin besteht also das Interesse, sich diesen Film reinzuziehen? Es werden vor allem Seinfelds Jünger:innen sein, die sich aus Solidarität zum Regisseur – dem Ko-Schöpfer der wahrscheinlich wichtigsten Sitcom aller Zeiten: „Seinfeld“ – die Story dieses eigenartigen Teiggebäcks von Kellogg’s antun.

Jerry Seinfeld nimmt seine „What’s the deal with“-Nummer, die seit fast 40 Jahren mit den alltäglichen Banalitäten abrechnet, verpasst ihr den ultimativen Zuckerschock und präsentiert eine komplett aus der Zeit gefallene Komödie. Seinfeld inszeniert seine Geschichte – er schwört übrigens, nichts mit Kellogg’s abgesprochen zu haben – als Pendant zum Wettlauf ins All. Dies anhand zahlreicher Referenzen auf die 1960er-Jahre, die die Kenntnisse der breiten Masse wohl übersteigen.

Die Komiker:innen scheren sich jedoch einen Dreck darum und ziehen ihre Nummer durch. Und vielleicht reagiert die amerikanische Kritik allergisch auf die naive, komplett unzeitgemäße Verballhornung der Totemisierung aller Facetten des American Way of Life.

Bei aller Dummheit und dämlichen Situationen verfällt der Film nie in Zynismus. Auch nicht, wenn im letzten Akt Hugh Grant als Furry plötzlich auf so etwas wie eine Reenactment des amerikanischen Kapitols aus ist. „Unfrosted“ ist wirklich kein Meisterwerk der komödiantischen Kunst, aber auch nicht einer der schlechtesten Filme der letzten Jahre, zu dem große Teile der Kritik ihn niedermachen wollen. Nur, um Gotteswillen, fangen Sie deswegen nicht an, Pop Tarts zu essen – Ihr Blutzucker wird es Ihnen danken.

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