System der WillkürBahai aus Luxemburg über die Unterdrückung ihrer Religionsgemeinschaft im Iran

System der Willkür / Bahai aus Luxemburg über die Unterdrückung ihrer Religionsgemeinschaft im Iran
Symbole der Bahai-Religion am Schrein des Bab in Haifa, Israel. Dabei handelt es sich um eines der wichtigsten Heiligtümer der Anhänger. Foto: Bahá’í Media Bank

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Die landesweiten Proteste im Iran begannen am 16. September 2022 nach dem durch Polizeigewalt herbeigeführten Tod der Iranerin Jina Mahsa Amini in Teheran. Von den Minderheiten im Iran muss vor allem die Glaubensgemeinschaft der Bahai unter der staatlich gelenkten Diskriminierung leiden. 

Tageblatt: Vor mehr als einem Jahr hat die jüngste Protestwelle gegen das Regime in Teheran begonnen. Die Machthaber schlugen unerbittlich zurück. Haben sich die Machthaber einmal mehr durchgesetzt?

Sarah Khabirpour: Aus der Perspektive der Bahai ist es kein neues Problem der Diskriminierung. Deren Unterdrückung hält nun seit fast 45 Jahren an. Nun sehen wir, dass die iranische Regierung die Unterdrückung auf das ganze Land ausgeweitet hat. 

Zur Person

Sarah Khabirpour (47) studierte Jura an der Pariser Sorbonne und an der London School of Economics, ist seit 2020 in den Verwaltungsräten von ICBC (Europe) SA, Mirabaud & Cie (Europe) SA, eBay sàrl, Sedco Capital Global UCITS Fimalac Développement SA. Davor war sie unter anderem bei BIL und Banque de Luxembourg sowie im Justiz- und Finanzministerium angestellt.

Die aktuellen Proteste sind auch bei Weitem nicht die ersten. Diesmal handelt es sich vor allem um einen Aufstand der Frauen. Er stieß sowohl im Iran als auch weltweit auf eine breite Solidarität. Wie hat sich die Situation der Frauen geändert?

Es gab, wie Sie schon andeuteten, in den letzten 15 bis 20 Jahren immer wieder Protestbewegungen. In der Tat sind jetzt besonders die Frauen und die Jugend für ihre Rechte auf die Straße gegangen. Das sind immerhin über 50 Prozent der Bevölkerung, was eine wesentliche Entwicklung bedeutet. Die Tatsache, dass die Frauen sich jetzt so starkmachen und eine so große Ausdauer an den Tag legen, ist bemerkenswert.

Sarah Khabirpour
Sarah Khabirpour  Foto: privat

Sie gehören der Glaubensgemeinschaft der Bahai an. Seit jeher werden die Bahai in ihrem Stammland Iran diskriminiert. Vor allem aber seit der Islamischen Revolution. Wie äußert sich diese Unterdrückung?

Es ist sowohl Unterdrückung als auch Verfolgung. Sie trat immer wieder in verschiedenen Wellen auf. Eine Zeit lang gab es eine Phase der Diskriminierung, die dann in eine Verfolgung übergegangen ist. Seit der Islamischen Revolution wurden etwa 200 Bahai hingerichtet. Die Unterdrückung ist zu einer „Government Policy“ geworden, welche in dem berüchtigten Memorandum von 1991 von der iranischen Regierung verankert wurde. Nun hat sich die Situation wieder intensiviert.

Weshalb kam es 1991 zu dem Memorandum?

Es ging immer um Machterhalt. Die Bahai setzen sich für die Verbesserung der Gesellschaft ein. Aber wieso unterdrückt man eine Gemeinschaft, die sich für Frieden, die Menschenrechte und den Fortschritt einsetzen will? Die Bahai haben keinen Klerus. Wenn man aber in einem System lebt, in dem der Klerus ein Hauptelement der Machtausübung ist, dann wird dies als Bedrohung betrachtet – daher das Memorandum. Die Bahai basieren auf ganz anderen Prinzipien, ihnen geht es um gesellschaftlichen Fortschritt. Und dies scheint von der iranischen Regierung nicht gewünscht.

Welche Formen hat die Unterdrückung angenommen?

Das Spektrum der Unterdrückung ist groß und beginnt mit den zivilen Akten des Lebens, ob es mit der Schule, mit der Gesundheit oder mit dem Arbeitsleben zu tun hat. Davon wird eine große Minderheit komplett ausgeschlossen. Die Bahai dürfen zum Beispiel keine Universität besuchen. Man entzieht den Bahai die Basis, ein Leben aufzubauen. Es wird mit der Ungewissheit gespielt. Die Willkür ist systematisch. Sie ist ein Teil des Systems. Bahai-Kinder zum Beispiel dürfen zwar eine Schule besuchen, werden dort aber diskriminiert. Andererseits haben die Bahai im Iran eigene Bildungsinstitute geschaffen. Zudem sind ihre Bestattungsformen nicht erlaubt, was auch ein Angriff auf die Würde ist. Gräber werden zerstört, Leichen verschwinden und Bestattungen werden sabotiert.

Wie viele Bahai sind zurzeit im Gefängnis?

Es gibt zurzeit etwa tausend Gerichtsverfahren. Aber wie viele verurteilt und inhaftiert sind, kann ich momentan nicht sagen.

Was wird ihnen vorgeworfen?

Die Vorwürfe sind willkürlicher Natur. Mal wird ihnen vorgeworfen, ihre Überzeugung mit anderen zu teilen und zu verbreiten. Einem Apotheker, der ein Warenlager hatte, wurde vorgeworfen, Medikamente zu horten. Die Vorwürfe sind vielfältig und reichen bis in die private, intime Atmosphäre des Menschen. Dass man zum Beispiel den Menschen verbietet, sich zu treffen. Eine Teilnahme an einer Diskussion zum Beispiel wäre verboten.

Big Ayatollah is watching you: Straßenszene in Teheran im September 2023 mit Ayatollah Ruhollah Khomeini und Ayatollah Ali Khamenei
Big Ayatollah is watching you: Straßenszene in Teheran im September 2023 mit Ayatollah Ruhollah Khomeini und Ayatollah Ali Khamenei Foto: AFP/Atta Kenare

Warum die jüngste Eskalation?

Es gab eine Zuspitzung. Im letzten Jahr hatten wir 300 Fälle von Inhaftierungen, dieses Jahr wieder 180. Es wird viel konfisziert, Häuser werden zerstört. Aber die Eskalation beschränkt sich nicht auf die Bahai – es wird immer klarer, dass das gesamte iranische Volk betroffen ist. Dies ist nicht verwunderlich: Eine Regierung, die Minderheiten unterdrückt, wird über kurz oder lang das gesamte Volk unterdrücken. Die Unterdrückung der Bahai ist nur ein Aspekt in der langen Geschichte der Unterdrückung im Iran.

Vor Kurzem hielt der iranische Präsident Ebrahim Raisi wieder eine Rede vor der UN-Vollversammlung. Wie beurteilen Sie das?

Das ist atemberaubende Hypokrisie. Was kann man anderes erwarten. Eigentlich sollte man von einer Regierung erwarten, dass sie sich um den materiellen und geistigen Fortschritt des Landes kümmert. Das erfüllt diese Regierung in keiner Weise.

Was unternimmt die internationale Gemeinschaft?

Es ist schwierig, auf so etwas zu reagieren, wenn die Taktik einer Regierung das Leugnen und das Lügen ist. Wir finden es wichtig, dass darüber gesprochen wird, damit sich internationale Gemeinschaft für die Menschen im Iran einsetzt. Wie viel schlimmer wäre es, wenn gar nichts gemacht würde? Deshalb müssen wir daran festhalten. Die Bahai sind der Überzeugung, dass sich die Gesellschaft weiterentwickelt. Sie treten dafür ein, dass der Einzelne gesellschaftliche Verantwortung übernimmt.

 Sie sind im Westen aufgewachsen. Waren Sie selbst einmal im Iran?

Ich bin in der Schweiz geboren, weil mein Vater in Zürich studiert hat. Ich kam mit vier Jahren mit meinen Eltern nach Luxemburg und bin hier aufgewachsen. Im Alter von einem Jahr war ich mit meiner Mutter einmal im Iran. Ich habe zuerst eine Bahai-Identität, spüre aber auch eine kulturelle Verbindung zum Iran.

Unterdrückung von der Wiege bis ins Grab

Die Angehörigen der im 19. Jahrhundert entstandenen Glaubensgemeinschaft müssen seit Jahrzehnten unter dem Mullah-Regime der Islamischen Republik Iran leiden, mehr als andere Religionsgruppen wie etwa Christen oder Juden, weil der Bahai-Glauben nach dem Islam entstanden ist. Die Bahai gelten als Häretiker. Im Iran bilden die nach Schätzungen etwa 300.000 dort lebenden Bahai nicht nur die größte, sondern sind auch die von Staats wegen am stärksten in ihren Rechten eingeschränkte Minderheit. Dies belegt ein Dokument der Minority Rights Group International aus dem Jahr 2019. Demzufolge gibt es von staatlicher Seite Anweisungen, die Bahai zu verfolgen. Ihre Häuser werden zerstört, ihre Grundstücke beschlagnahmt. Seit der Islamischen Revolution 1979 wurden 200 Bahai hingerichtet.
Das Bahaitum geht auf den iranischen Religionsstifter Bahāʾullāh zurück. Er wird als der jüngste der von dem Gott der Bahai gesandten Boten bezeichnet. Propheten des Judentums, Christentums und Islams werden ebenfalls als Gesandte angesehen. Höchstes Ziel der Bahai-Religion sind der universelle Frieden und die Einheit der Menschen.