LangeweileWenn der Corona-Blues zuschlägt

Langeweile / Wenn der Corona-Blues zuschlägt
Geschwister in Tunesien beschäftigen sich während der Quarantäne mit Lesen und Arbeiten Foto: AFP/Fethi Belaid

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Mit der Quarantäne kommt die Langeweile. Ablenkung ist das Gebot der Stunde. 

Frühlingserwachen. Die ersten Blumen blühen bereits. Die Sonne scheint. Aus dem Fenster kann man sie sehen. Die Verkehrsinsel in Hollerich mit ihren Osterglocken blüht vielleicht schon.

In den Medien liest und hört man derzeit viel davon, wie Familien sich in der Quarantäne vergnügen können, welche Brettspiele sie spielen können, wie sie das häusliche Zusammenleben und die Beschulung der Kinder so gestalten können, dass es nicht nach wenigen Tagen schon zu Langeweile, wenn nicht zu Mord und Totschlag kommt. Daneben gilt die berechtigte Sorge den Alten, die keinen Besuch empfangen dürfen. Und natürlich den Menschen, die rausmüssen und sich nicht zu Hause vor dem Virus in Sicherheit bringen können. Kaum ein Wort über die anderen. Die alleine zu Hause sitzen und keine Familie um sich haben.

Viele Menschen erleben gerade etwas, das sie schon lange nicht mehr erleben mussten: Langeweile. Die Wohnung bietet nur begrenzt Ablenkung. Sicher, Arbeit ist genug da. Der Haushalt macht sich nicht von alleine, im Schrank stehen noch die dicken Wälzer, die man schon immer einmal lesen wollte, und ein paar Liegestützen würden wohl auch nicht schaden. Und dann ist da noch das Home-Office. Und dennoch …

Und sie langweilten sich en masse

Langeweile ist tief in der Natur des Menschen verwurzelt. Der gottgläubige dänische Philosoph Søren Kierkegaard schrieb über sie: „Adam langweilte sich alleine, dann langweilten sich Adam und Eva zu zweien, dann langweilten sich Adam und Eva und Kain und Abel en famille, dann wuchs die Menge der Menschen auf Erden, und sie langweilten sich en masse.“

Nichts zu tun, widerstrebt dem Menschen. Erschwerend kommt heute ein neues Phänomen hinzu: „Fear of missing out“ – die Angst, etwas zu verpassen. Menschen fühlen sich nicht mehr nur unwohl, weil sie nichts tun. Alleine der Gedanke, eine Nachricht, und sei sie noch so trivial, zu verpassen oder bei dem neusten Trend nicht dabei zu sein, verursacht Angstzustände. Angefacht von sozialen Medien, die suggerieren, dass ständig irgendwo etwas Interessantes passiert.

Langeweile kann auch eine Triebfeder menschlichen Schaffens sein. Als 1664 in London die Beulenpest ausbrach, übten sich die Menschen in „social distancing“. Wer konnte, floh aufs Land. Die damals schon bekannte Universität von Cambridge musste schließen. Einer der Studenten, die sich zu Hause einschlossen und sich selbst einer Quarantäne unterwarfen, war Isaac Newton. Anderthalb Jahre lang verweilte Newton auf dem Bauernhof seiner Familie und verbrachte den Tag mit Lesen, Studieren und Kontemplation. Während dieser Zeit experimentierte Newton mit einem Prisma und entdeckte die Grundlagen der Optik. Nebenbei entwickelte er die Infinitesimalrechnung und entdeckte seine Gravitationstheorie.

Für Friedrich Nietzsche ist es ein Zeichen von Schwäche, wenn ein Mensch einer Arbeit nachgeht, die keinen Spaß macht, nur um die Langeweile zu bekämpfen. Einer wahren großen Leistung geht Langeweile voraus. In „Die fröhliche Wissenschaft“ schreibt er: „Für den Denker und für alle empfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme ,Windstille’ der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht; er muss sie ertragen, muss ihre Wirkung bei sich abwarten – das gerade ist es, was die geringeren Naturen durchaus nicht von sich erlangen können!“

Das Gegenteil von Glück

Das Verlangen, die Langeweile abzustellen, treibt – das sei auch gesagt – die wenigsten Menschen in die Arme der Forschung. Die meisten Menschen werden wohl versuchen, Langeweile mit solch profanen Mitteln wie Netflix, Computerspielen oder Literatur (die unterhaltsame Sorte und nicht die lehrreiche Sorte) zu bekämpfen. Und doch stellt sich irgendwann die Langeweile ein.

Dabei stellt sich die Frage, inwiefern Langeweile unserer Kontrolle unterliegt. Der römische Philosoph Epiktet, sonst ein guter Ratgeber in diesen Fragen, listet den Ennui weder bei den Dingen, die in der Kontrolle des Menschen liegen, noch bei jenen, die er nicht kontrollieren kann. Ein anderer Stoiker, Seneca, rät (mit Verweis auf Athenodorus) dazu, sich mit nützlichen Dingen abzulenken. Für Stoiker bedeutete dies meist, den bürgerlichen Verpflichtungen nachzukommen, anderen zu helfen und der Allgemeinheit zu dienen. Der Unternehmer und Schriftsteller Tim Ferriss – auch Stoiker – schreibt: „Das Gegenteil von Liebe ist Gleichgültigkeit, und das Gegenteil von Glück ist Langeweile.“

Seit kurzem interessiert sich auch die Wissenschaft für die Langeweile. Immer mehr wurde deutlich, dass die negativen Effekte von Langeweile über ein unangenehmes Gefühl hinausgehen. Wissenschaftler fanden heraus, dass Langeweile und Einsamkeit zu Essstörungen führen können. Gelangweilte Teenager neigen öfters zum Konsum legaler und illegaler Drogen. Langeweile hat auch mit der Chemie im Körper zu tun. Wissenschaftler glauben, dass Menschen, die sich schnell langweilen, eine geringere Menge Dopamin im Körper haben und deshalb mehr Stimuli brauchen, um die Langeweile zu bekämpfen. Wie immer ist es aber komplizierter.

Das letzte Pink-Floyd-Album

Letzten Samstag. Eine bunte Gruppe von Geheimagenten dringt in ein Raumschiff ein. Ihre Mission ist es, einen wertvollen Gegenstand zu stehen. Das letzte Exemplar von Pink Floyds  „Dark Side of the Moon“, das die Zerstörung der Erde überlebt hat. Dabei erleben die Agenten eine unangenehme Überraschung … Wegen Corona hat unsere Rollenspielgruppe sich nicht persönlich getroffen, sondern im Internet. Für unsere Konferenzschaltung nutzen wir das bei Gamern beliebte Programm „Discord“. Über eine Internetplattform (roll20.net) können wir uns Spielplan, Spielfiguren und Würfel gemeinsam ansehen. Ablenkung. Fünf Personen. Sechs Stunden lang. Sich mit Freunden im Internet verabreden ist uns allen nicht fremd. Doch die Quarantäne gibt dem Ganzen eine neue Qualität. Was früher Zeitvertreib – Muße – war, ist jetzt zusätzlich Ablenkung. Sechs Stunden, in denen das Wort Corona nicht ein einziges Mal fällt.

Ablenkung ist die eine Sache. Aber wie wäre es zu lernen, mit Langeweile umzugehen? Sie auszuhalten? Dem Gehirn gefällt es gar nicht, wenn es nicht beschäftigt wird – wenn die Stimuli nicht mehr im Sekundentakt eintrudeln. Nicht umsonst stellen sich auf langen Zugfahrten oder vor dem Einschlafen oft erdrückende Gedanken ein. Denn wenn man sonst nichts zu tun hat, sucht das Gehirn nach mentaler Beschäftigung. Wie schwer es ist, nicht zu denken, weiß jeder, der einmal versucht hat, zu meditieren. Nicht einmal fünf Minuten, in denen man sich nur auf seinen eigenen Atem konzentriert, will das Gehirn einem Meditations-Anfänger gönnen.

Ob das Leben nicht zu kurz ist, um sich zu langweilen, hat Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“ gefragt. Die Frage trifft nicht den Kern des Problems. Paradoxerweise erleben wir zu viel, um uns nicht zu langweilen. Mit jedem Tweet, jedem Update, jeder Nachricht, jeder neuen Folge unserer Lieblingsserie und jeder neuen Statistik über Corona-Fälle erhalten wir einen neuen Stimulus. Die Latte, um die Langeweile zu überwinden, wird immer höher gelegt, und je mehr Möglichkeiten wir haben, uns zu beschäftigen, je schwieriger wird es, die Langeweile auszuhalten. So betrachtet ist Langeweile simpel: Es ist eine Entzugserscheinung.

Miette
27. März 2020 - 22.19

Et muss een elo duerch den Alldaag doheem matt Struktur, wien Kanner huet deen huet vill ze dinn. Dei leif Kleng brauchen Spillstonnen, dei mei grouss Kanner hun iwert d'Woch "Schoul vun doheem aus". Vill vun eis schaffen vun doheem aus, aanerer mussen dobaussen schaffen. Un dei Mattmenschen, dei elo all Daag weinst eis all dobaussen schaffen, einfach emol een decken Merci??? Dann sin der nach, ewei ech dei doheem sin, duerf meng Kanner an Enkelen net gesin. Mir verlaangeren een no deem aaneren, schreiwen an telefoneieren. Et ass elo eben esou an loosen mer eis op deen Daag freen, wou mer eis erem dierfen an den Aarm huelen an dann dausend Kussien. Dei Zait vum Waarden, net den Courage verleieren. Haus botzen, Blimmrecher an Gemeis am Gaard uplanzen. No leiwen Menschen froen, per App oder Telefon an sech bewosst maachen, et geet net em Langweil, et geet duerch dei Isolatioun em Liewen.

Yves Greis
27. März 2020 - 10.16

Lieber Maurice, Sie haben Ihren Kommentar um 00:16 verfasst. Da scheint die Sonne normalerweise auch nicht. Liebe Grüße, Yves

Maurice
27. März 2020 - 0.16

"Frühlingserwachen. Die ersten Blumen blühen bereits. Die Sonne scheint." Und es ist kalt wie Sau.